Erkenntnis ist ein Wiedererkennen

In einem Dialog zwischen Menon und Sokrates untersucht Platon das Rätsel des Erkennens anhand der Begegnung mit einer Idee. Woher kommt, genau in diesem Moment, in dem man zum ersten Mal etwas begreift, in dem man eine Idee klar formuliert, der Eindruck, dass sie evident sei, dass man es schon immer wusste? Erkenntnis, so Platon, ist eigentlich ein Wiedererkennen. Oder, um es mit seinen Worten zu sagen, eine „Reminiszenz“ oder Rückerinnerung. Charles Pépin erläutert: „Bevor wir geboren wurden und für die begrenzte Dauer unseres irdischen Lebens in unseren Körper fielen, gehörten wir der Welt der ewigen Ideen an. Und diese Welt werden wir im Augenblick des Todes, befreit von den Grenzen unseres Körpers, weiderfinden.“ Charles Pépin ist Schriftsteller und unterrichtet Philosophie. Seine Bücher wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.

Liebe auf den ersten Blick gleicht einem Wiederfinden

Demnach ist das Verständnis einer Idee eigentlich ein Wiedererkennen dieser Idee. Diese hat man in ihrer intelligiblen und ewigen Form gekannt, bevor man in seine Körperhülle gefallen ist. Einer Idee zu begegnen, bedeutet, sie wiederzufinden. Auch die Liebe auf den ersten Blick mutet wie ein Wiedersehen oder Wiederfinden an. Das ganze Leben lang zweifelt man, doch bestimmte Begegnungen haben das Vermögen, einen zu erlösen. Manchmal reicht dazu eine einzige Geste, die Dauer einer Lidschlags.

Charles Pépin fragt: „Was rufen diese Begegnungen in uns wach, das für Ungewissheit keinen Platz mehr lässt? Wem oder was begegnen wir da? Wahrscheinlich dem „wirklichen Leben“. Man lässt sich hinreißen, trotz aller Gefahr. Mitten in diesem eingegangenen Risiko gibt einem das Gefühl von Vertrautheit ein Maß an Sicherheit; man hat Vertrauen. Man fühlt sich zu Hause im Unbekannten: das Zeichen dafür, dass wir jemandem begegnen. Jemanden zu begegnen, bedeutet, an die Schwelle einer neuen Welt katapultiert zu werden und eine unbändige Lust zu verspüren, sie zu erkunden.

Begegnungen sind eine Einladung zu einer Reise

Es ist eine Einladung zur Reise. Das kann eine Länder- oder Kulturreise sein, wenn der Andere aus einem anderen Land oder einem anderen sozialen Milieu kommt. Kurzum handelt es sich dabei um eine Reise, die „Exotisches“ verspricht. Charles Pépin stellt fest: „Sie kann aber auch innerhalb ein und desselben soziokulturellen Milieus stattfinden.“ Egal, ob die Reise einen über Landesgrenzen oder auf die andere Straßenseite führt, zu einem weit entfernten Menschen oder zu einem ganz nahen Menschen. Seine Welt wird so oder so immer anders sein.

Aus dem einfachen Grund, dass er den eigenen Blick „dezentriert“ und eine andere Sichtweise anzubieten hat. Manchmal wünscht man sich eine ganze Welt, diejenige, die mit dem Menschen verbunden ist, den man kennengelernt hat. Und von dieser erahnt man am Anfang nur die Konturen. Dabei handelt es sich um eine Welt, die aus Gewohnheiten, Gebärden, Freunden und Feinden, aus Gefühlen, Wahrnehmungen und Erinnerungen besteht. Quelle: „Kleine Philosophie der Begegnung“ von Charles Pépin

Von Hans Klumbies