In der Lebenswelt hat alles seinen Preis, nicht nur die natürlichen Ressourcen und die Dinge, sondern auch die Menschen. Annemarie Pieper erklärt: „Zwar läuft niemand mit einem angehefteten Preisetikett durch die Gegend, aber wir taxieren andere automatisch: anhand ihres Aussehens, ihrer Kleidung, der Art, wie sie sich bewegen, sprechen, sich verhalten.“ In lange zurückliegenden Zeiten mag die blitzschnelle Einschätzung, insbesondere von Fremden, überlebenswichtig gewesen sein: Freund oder Feind? Besser, man bemächtigt sich seines Skalps als Trophäe für die eigene Überlegenheit, als die Konfrontation mit dem Leben zu bezahlen. Die heutigen Kopfjäger hingegen, die sogenannten Headhunter, bemessen den Wert einer Person an den Spitzengehältern, die der freie Markt für die Fähigkeiten ihres Kopfes zu zahlen bereit ist. Prof. Dr. Annemarie Pieper lehrte von 1981 bis 2004 Philosophie an der Universität Basel.
Nur der Mensch kann seine Zukunft planend gestalten
Letztendlich ist dieser freie Markt den alten Sklavenmärkten in mancher Hinsicht nicht unähnlich. Nur dass man nicht von anderen feilgeboten wird, sondern als sein eigener Sklavenhalter agiert, indem man selbst seine Vorzüge anpreist. Zum Beispiel in Bewerbungsschreiben und Vorstellungsgesprächen, aber auch in Heiratsannoncen und Bekanntschaftsanzeigen. Annemarie Pieper weiß: „Das Selbstwertgefühl leidet enorm, wenn man weder hier noch da Erfolg hat, als Muster ohne Wert wegrationalisiert oder abqualifiziert wird.“
Werte kamen erst mit einem Wesen ins Spiel, das Pläne entwerfen und Alternativen gegeneinander abwägen konnte. Der Mensch ist aufgrund seiner Fähigkeit, seine Zukunft planend zu gestalten, Urheber der Werte. Annemarie Pieper ergänzt: „Indem er eigene Zielsetzungen zu verfolgen begann, klinkte er sich bis zu einem gewissen Grad aus der biologischen Evolution aus und leitete die kulturelle Evolution ein.“ Dieser Akt der Emanzipation durch Wertschöpfung machte den Menschen zu einem autonomen Wesen.
Viele Menschen wollen etwas Eigenes verwirklichen
Dieses Individuum schrieb sich Freiheit zu, Freiheit im negativen Sinn als Freiheit von der Kausalität des Zufälligen und Freiheit im positiven Sinn als Freiheit zu selbstbestimmten Lebensentwürfen. Der Mensch strebt danach, etwas Eigenes zu verwirklichen, etwas, das für ihn Wert hat, weil er es als wünschenswert erachtet, anstatt sich durch Vorgegebenes instrumentalisieren zu lassen. Friedrich Nietzsche war es, der den Menschen geradezu als wertendes, schätzendes Wesen definierte.
Annemarie Pieper stellt fest: „Nietzsche rekonstruiert die Genealogie der Werte im Rückgang auf das Sinnverlangen des Menschen, der die Dinge zu sich ins Verhältnis setzt und daraufhin taxiert, welchen Wert sie für ihn haben.“ Es gibt demnach keine Werte an sich, keine dem menschlichen Urteilsvermögen vorgegebenen Wertstandards, an denen der Einzelne oder die Gemeinschaft sich orientiert. Anfänglich war es laut Friedrich Nietzsche die Perspektive der Nützlichkeit, aus welcher den Dingen Wert respektive Unwert zugeschrieben und als ihr Sinn eingeschrieben wurde. Quelle: „Der evaluierte Mensch“ von Annemarie Pieper in „Der Geist im Gebirge“ von Konrad Paul Liessmann (Hg.)
Von Hans Klumbies