Pflichterfüllung bedeutet mitnichten Kritiklosigkeit

Pflichterfüllung ist kein Selbstzweck, und Pflichten, die frei von gutem Nutzen sind, sind kritisch zu hinterfragen. Pflichtbewusster Staatsbürger eines liberal-demokratischen Staates zu sein, bedeutet mitnichten Kritiklosigkeit oder einen Glauben an alle massenmedial verbreiteten Mehrheitsmeinungen. Richard David Precht nennt ein Beispiele: „Wer gegen Kohlekraftwerke oder Aufrüstung protestiert, vernachlässigt nicht seine staatsbürgerlichen Pflichten, lässt deswegen nicht Empathie vermissen oder missachtet die Schwachen und Schutzbedürftigen.“ Doch was sich auf Querdenker-Demos abspielt ist keine Rebellion im Namen der humanitas. Es lässt sich nicht vergleichen mit dem Protest gegen den Hunger in der Welt bei gleichzeitigem Überfluss der reichen Länder. Und auch nicht gleichsetzen mit dem Aufbegehren gegen die noch immer rasant fortschreitende Zerstörung der klimatischen Lebensbedingungen des Menschen auf der Erde. Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

Widerstand gegen staatliche Willkür ist moralische Bürgerpflicht

Stattdessen geht es vor allem gegen ein Stückchen Stoff, das Leben schützen soll und es nach Ansicht vieler Experten auch tut. Jeder Staatsbürger hat das moralische Recht, ja, sogar die moralische Pflicht, sich zu entpflichten, wenn die angewiesene Pflicht der humanitas widerspricht! Richard David Precht betont: „Widerstand gegen staatliche Willkür, großes Unrecht oder die Gefahr einer Tyrannis sind nicht nur im antiken Verständnis moralische Bürgerpflicht.“

Allerdings lässt sich mit klaren Augen nicht sehen, inwiefern die Covid-19-Rebellen auf ihren Querdenker-Demos oder in ihren Internetforen für die humanitas stehen. Stattdessen speist sich die Entpflichtung aus waghalsigen Spekulationen und unbegründeten Verdächtigungen. Es gibt also einen großen Unterschied, aus welchem Motiv und gegenüber welcher Anforderung man sich entpflichtet! Rebellische Potenzialentfaltung mag manchem einen flüchtigen und stets auf Erneuerung und Bestätigung lauernden Anflug von Bedeutsamkeit geben. Aber ohne das geeignete Zielobjekt wird sie leicht albern.

Es existiert eine mediale Entrüstungsgesellschaft

Zwar ist Ethik keine permanente Bildhauerarbeit am Charakter, wie Cicero in der Tradition der antiken Griechen dachte. Man formt sich nicht selbst wie eine Plastik. Richard David Precht ergänzt: „Aber sie ist noch heute wie damals aufs Engste verbunden mit der Kunst der Urteilsschule. Ist das, was ich denken, nicht nur für mich tapfer, sondern auch weise und gerecht und nicht einfach nur selbstgerecht?“ „Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, hat keinen zu verlieren“, heißt es in Gotthold Ephraim Lessings „Emilia Galotti“.

Doch wer über alles den Verstand verliert, leider auch nicht mehr. Der letzte Satz gilt nicht nur für die mediale Entrüstungsgesellschaft, in der die Menschen heute leben. Er gilt ebenso für die große Empörung aus kleinem Anlass. Jeder moralische Maßstab ist durch Übereifer und Übertreibung bedroht, die ihn leicht angreifbar, mitunter sogar lächerlich macht. Das gilt sowohl für die „Querdenker“ im Namen einer einseitig interpretierten Freiheit. Und auch für die Pflichtbesessenen, denen es nicht genug ist, ihre Pflicht zu tun. Sondern ihr übereifriges Pflichtgefühl nötigt es ihnen ab, Plichtvergessene harsch anzuschnauzen oder zu denunzieren. Quelle: „Von der Plicht“ von Richard David Precht

Von Hans Klumbies