Kafkas Werk hat der philosophischen Nachwelt einen Schatz hinterlassen

Der Titel der Sonderausgabe Nr. 29 des Philosophie Magazins lautet: „Der unendliche Kafka“. Jana Glaese, Chefredakteurin der Sonderausgabe, schreibt: „Kafkas Werk hat der philosophischen Nachwelt einen Schatz hinterlassen. Von Walter Benjamin und Theodor Adorno über Hannah Arendt und Albert Camus bis hin zu Giorgio Agamben, Gilles Deleuze und Judith Butler ist Kafka eine zentrale Referenz der Philosophie.“ Der Philosophie in ihrer akademischen und systematischen Gestalt misstraut Franz Kafka. Doch mit Begeisterung liest er jene Denker, in deren Texten und Biografien er seine eigenen existenziellen Fragen erkennt. Søren Kierkegaard (1813 – 1855) war der Philosoph, den Kafka wohl am intensivsten gelesen hat. Die biografischen Ähnlichkeiten der beiden sind augenfällig: Es verbindet sie eine Neigung zu Schuldgefühlen und zum Grübeln, vor allem aber das problematische Verhältnis zur Eheschließung.

Franz Kafka suchte nach der Wahrheit

Während seiner Gymnasialzeit liest Franz Kafka mit Begeisterung Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“. Ihn verbindet mit Nietzsche ein Interesse für den Nihilismus der Moderne und für die Fragwürdigkeit von Autoritäten und für die Bedeutung des Körpers, der seine eigene Vernunft hat. Zur Psychoanalyse eines Sigmund Freud bleibt Kafkas Verhältnis dagegen zwiespältig. Einerseits bringt er ihr Interesse entgegen, andererseits zweifelt er an ihren reduktionistischen Erklärungen und ihrem Heilungsversprechen.

Für die Germanistin Vivian Liska war Franz Kafka ein Suchender, genau wie seine Protagonisten. Er suchte nach der Wahrheit. Aber aus jedem seiner Sätze spricht die Unmöglichkeit, sie zu erreichen. Sie schreibt: „Vielleicht hatte Walter Benjamin recht, als er Kafka einmal einen Gescheiterten nannte. Doch es war ein Scheitern auf großartigste Weise.“ Der Philosoph Fabian Bernhardt entdeckt in den Figuren Kafkas die subversive Kraft des Kleinen. Franz Kafkas Worte über die Vollendung im Kleinen rückt sein Denken in die Nähe des Daoismus. Ein zentrales Prinzip dieser Weisheitslehre ist das Handeln durch Nichthandeln.

Die „Zürauer Aphorismen“ sind an Schlichtheit und Tiefe nicht zu übertreffen

Die Philosophin Sonja Dierks und der Philosoph Marcus Steinweg sprechen über Kafkas unendlich scheinende Tiefe. Für Marcus Steinweg gehören zum schönsten seines Werks die „Zürauer Aphorismen“. Denn sie sind seiner Meinung nach an Schlichtheit und Tiefe nicht zu übertreffen: „Manchmal lassen sie an Ludwig Wittgenstein denken, der mit Kafka die Kierkegaard-Lektüre teilt. Allen dreien geht es um die Standortbestimmung des menschlichen Subjekts.“ Das Philosophische seines Werks liegt darin, den Menschen an einer Grenze zu situieren, die er nicht überschreiten kann, obwohl es ihn zu dieser Überschreitung reizt.

Sonja Dierks gewichtet das Philosophische und das Dichterische im Werk Franz Kafkas gleich stark, weil er zugespitzt gedacht, Theodor W. Adorno mit Walter Benjamin ausbalanciert. Sie schreibt: „Er philosophiert weniger, strebt weniger danach, Erkenntnis zu generieren und Antworten zu geben, als dass er Sprache neu und anders denkt.“ Seine Suche nach einer dem Wirklichen angemessen Sprache ist auch nicht begrifflich orientiert, sondern daran, was Jacques Lacan das Imaginäre genannt hat, Maurice Blanchot das Neutrum und Tzvetan Todorov das Fantastische.

Von Hans Klumbies