Grenzen und Grenzziehungen – konkret oder ideell – sind von Beginn an ein zentrales Wesensmerkmal europäischer Selbstdarstellung. Jürgen Wertheimer erklärt: „Sie sind ein Mittel, um sich von der Umwelt abzusetzen und den eigenen Machtanspruch zu sichern.“ Sie waren es und sind es bis jetzt geblieben. Allerdings ist ihre Definition und Organisation in einem steten Wandel begriffen. Kaum ein anderes Phänomen hat in den vergangenen Jahrzehnten so einschneidende Veränderungen erfahren wie das der Grenze. Im Jahr 1961 wurde eine rigide innerdeutsche Grenze gezogen. Keine dreißig Jahre später fiel die für unüberwindbar gehaltene Mauer ohne nennenswerten Widerstand. Selbst der „Eiserne Vorhang“ erwies sich als Trugbild. Seit 2015 zieht man in Europa, das sich zwischenzeitlich als barrierefreier Inklusionsraum inszeniert hatte, wieder Stacheldrähte und Betonmauern hoch. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.
Grenzen sind willkürlich und verbindlich zugleich
Eine Linie, ein Schnitt, ein massiver Zaun scheint auch im Zeitalter der Virtualität die Ultima Ratio zu sein, wenn es hart auf hart kommt. Wobei sich zwischen Zaunbefürwortern und Zaungegnern eine ideologische Grenze aufbaut, die nicht weniger unüberwindlich scheint. Jürgen Wertheimer stellt fest: „Exodus und Mauerbau, Aufbruch und Abwehr stehen sich diametral gegenüber. Auch als Prinzipien.“ Man kann es als das Gegenüber von Angriff und Verteidigung beschreiben.
Aber man kann es auch als das Gegeneinander von Befreiung und Unterdrückung ansehen – und zwar von beiden Seiten her. Je nach Standort. Vom Westen aus gesehen stellte sich die Mauer als „Schandmal“ dar. Vom Osten als „antiimperialistischer Schutzwall“. Grenzen sind willkürlich und verbindlich zugleich. Sie wollen Bewegung verhindern und generieren Ausweichmanöver. Erst die Mauer, erst die Blockade schafft den Stau. Der aber hat nichts anderes im Sinn, als die Mauer zu überwinden.
Die Globalisierung verändern den Blick auf die Welt
Also genau das zu bewerkstelligen, was die Mauer verhindern soll. Jürgen Wertheimer sagt es in aller Deutlichkeit: „Ohne Mauer keine Flucht – freilich auch ohne Flucht keine Mauer.“ Die Intimität der Dialektik manifestiert sich kaum anderswo so intensiv wie in der Idee der Grenze. Der Grenzübertritt, der kleine Grenzverkehr und die Grenzkontrolle sind die Elemente ihrer offiziellen Schauseite. Schmuggel, Schmiergeld, falsche Pässe, Festnahmen und Rückführungen sind die andere, dunklere, geschichtsabgewandte Seite.
Im Zuge der Globalisierung verändert sich der Blick auf die Welt. Nationale Kulissenwände fallen, bisher unbekannte Wahrnehmungsräume öffnen sich. Europa mutiert zum Appendix des gewaltigen eurasischen Kontinents. Große und feine Verbindungs- und Vernetzungswege treten ins Zentrum. Grenzen werden in ihrer faszinierenden Ambivalenz, in ihrer Zwiespältigkeit erkennbar. Wahrnehmungsgeschichte im Zeitalter der Globalisierung ist angewandte Philosophie der Grenze, der Grenzziehung und Grenzüberschreitung. Quelle: „Europa“ von Jürgen Wertheimer
Von Hans Klumbies