Soziale Unzufriedenheit verursacht keine Revolutionen

Christopher Clark befasst sich in seinem neuen Buch „Frühling der Revolution“ mit den Gesellschaften Europas vor 1848. Dabei liegt das Augenmerk auf Bereichen der Repression, Verdrängung, Unterdrückung und des Konflikts. Christopher Clark stellt fest: „Soziale Unzufriedenheit „verursacht“ keine Revolutionen – wenn sie das täte, käme es viel häufiger zu Revolutionen.“ Dennoch war die materielle Not der Europäer Mitte des 19. Jahrhunderts der unverzichtbare Hintergrund für jene Prozesse der politischen Polarisierung, welche die Revolutionen erst ermöglichten. Sie war ausschlaggebend für die Motivation vieler Teilnehmer an städtischen Unruhen. Ebenso wichtig wie die Realität und das Ausmaß des Leids waren die Mittel und Wege, mit denen diese Ära soziale Missstände wahrnahm und einordnete. Christopher Clark lehrt als Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine’s College in Cambridge. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte Preußens.

Kinderarbeit war im 19. Jahrhundert weit verbreitet

Die „soziale Frage“, die Europäer Mitte des 19. Jahrhunderts beschäftigte, war ein Komplex realer Probleme, aber sie war zugleich auch eine Art der Wahrnehmung. Graf Carlo Ilarione Petitti di Roreto erstellte eine Studie über die Auswirkung von Fabrikarbeit auf Kinder. Er war ein hoher Beamter im Dienst des Königreichs Piemont-Sardinien und zählte zu den angesehensten piemontesischen Liberalen seiner Ära. Petitti machte von Anfang an deutlich, dass er den Wert und die Notwendigkeit von Kinderarbeit in Fabriken anerkannte.

Kinder waren klein und flink. Man konnte sie für das Zusammenbinden, Aufspulen oder Haspeln zerrissener oder missratener Fäden einsetzen. Christopher Clark ergänzt: „Sie konnten unter Maschinen kriechen, um während des Betriebs nachzujustieren, ohne dass der Rhythmus der Produktion unterbrochen wurde.“ Sie waren für etliche Aufgaben hervorragend geeignet, bei denen man kleine Finger und schnelle Reflexe brauchte. Zudem waren sie billiger als Erwachsene und somit wichtig, um die Kosten möglichst niedrig zu halten.

Kinder begannen schon mit sieben oder acht Jahren zu arbeiten

Und die Kinder stockten das Familieneinkommen der ärmsten arbeitenden Eltern auf. Christopher Clark weiß: „Der Einsatz von Kindern für solche Tätigkeiten hatte stets zugenommen. Inzwischen begannen Kinder schon mit sieben oder acht Jahren zu arbeiten, und ihre Zahl hatte einen Punkt erreicht, wo sie sage und schreibe die Hälfte der in solchen Betrieben beschäftigten Arbeiter ausmachten.“ Petitti wies darauf hin, dass der Fabrikbesitzer ein nachvollziehbares Interesse daran haben, die Produktion zu maximieren und die Kosten zu minimieren.

Folglich forderte er die größtmögliche Anstrengung, selbst von seinen jüngsten Beschäftigten. Verarmte Eltern hatten ihrerseits ein Interesse daran, die Bürde des Unterhalts ihrer Sprösslinge zu mindern. Somit neigten sie dazu, ihre Kinder so früh wie möglich arbeiten zu lassen. Alle beteiligten Gruppen – außer den Kindern selbst – hatten ein Interesse an diesem System der Ausbeutung, und das ganze hatte bedauernswerte Folgen. Von der endlosen Plackerei erschöpft und ohne ausreichenden Schlaf dämmerten die kleinen Proletarier häufig ein und träumten von „Laufen und Springen“. Quelle: „Frühling der Revolution“ von Christopher Clark

Von Hans Klumbies