Europa hat noch jede Krise gemeistert

Es ist gegenwärtig ein geflügeltes Wort – die Krise Europas. Aber befand sich Europa nicht permanent in irgendeiner Krise? Nirgendwo sonst auf der Welt sind vor allem im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Nationalismen mit solch tödlicher Wucht aufeinandergeprallt. Dadurch haben sie einen ganzen Kontinent in Schutt und Asche gelegt. Edgar Wolfrum erläutert: „Wie auch immer sich die Situation gestaltete, schlimmer als vor 1945 konnte es nicht werden. Und bisher hat jede Krise Europas, und davon gab es seit den 1950er Jahren zahlreiche, zu einer neuen zukunftsweisenden Dynamik geführt.“ Diese brachte das Projekt Europa nach vorn. Europa war immer ein Geschichtsraum, der sich sozial, ökonomisch und politisch veränderte. Dabei waren seine Grenzen niemals eindeutig bestimmbar. Edgar Wolfrum ist Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg.

Im Jahr 1989 hat es für Europa sehr gut ausgesehen

Am Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert war Europa so dramatischen Veränderungen unterworfen wie sonst kein anderer Teil der Welt. Dabei überschneiden sich drei verschiedene Europas. Erstens das Europa des Friedensraums als Erbe zweier Weltkriege. Zweitens das Europa der sozialen Rechte und der Menschenrechten als Erbe von 1968. Drittens das Europa der (Wieder-)Vereinigung als Erbe des Endes des Kalten Krieges. In sämtlichen Lebensbereichen vollzog sich um die Jahrhundertwende herum ein revolutionärer Wandel, im Osten des Kontinents stärker als im Westen.

Und an der Schnittstelle befand sich mit der Vereinigung von BRD und DDR das neue Deutschland. Dieses Deutschland war und ist der ökonomische Riese und das mit Abstand bevölkerungsreichste Land im Herzen Europas. Sollte es die politische Führung in Europa übernehmen oder muss es sich wegen seiner Vergangenheit eher klein machen? An dieser Frage schieden und scheiden sich die Geister. Im Jahr 1989 hatte es sehr gut ausgesehen für Europa.

Der Krieg kehrte nach Europa zurück

Edgar Wolfrum stellt fest: „Als die Blockkonfrontation zu Ende war, glaubten nicht wenige, Europa werde wieder zur Weltmacht aufsteigen. Doch dieser Traum einer globalen Supermacht platzte. Der Kontinent war viel zu zerstritten.“ Und wer eine deutsche Führungsrolle wünschte, musste all jene überzeugen, die eine neue deutsche Dominanz witterten. Dieses Dilemma zu lösen, war, letzten Endes aus vergangenheitspolitischen Gründen, ein Ding der Unmöglichkeit.

Der Kommunismus war untergegangen, die Zweiteilung der Welt und der Kalte Krieg beendet. Das Ausmaß der Verwandlung Europas war gigantisch. Die Dynamik der Umbruchsereignisse veränderte den Kontinent grundlegend. Noch in den 1980er und frühen 1990er Jahren war eine beschleunigte Integration und Demokratisierung (West-)Europas festzustellen. Doch dann tauchten neue Konflikte auf. Der Krieg kehrte nach Europa zurück, und Bezugsräume der Welt verschoben sich infolge des Anschlags vom 11. November 2001. Quelle: „Der Aufsteiger“ von Edgar Wolfrum

Von Hans Klumbies