Die westliche Wissenschaft lebt von vielen Einflüssen

Wichtig ist für Amartya Sen die Erkenntnis, dass sich die sogenannte westliche Wissenschaft auf das Erbe der gesamten Menschheit stützt: „Es besteht ein Traditionszusammenhang zwischen der Mathematik und Wissenschaft des Westens und frühen nicht-westlichen Vorläufern. So gelangte das Dezimalsystem, das in den ersten Jahrhunderten des ersten Jahrtausends in Indien entwickelt wurde, gegen Ende des Jahrtausends über die Araber nach Europa.“ Zu Wissenschaft, Mathematik und Philosophie haben viele Einflüsse aus nichtwestlichen Gesellschaften – u.a. der chinesischen, der arabischen, der persischen, der indischen – beigetragen. Diese spielten erst in der Renaissance und später in der Aufklärung in Europa eine bedeutende Rolle. Der Westen spielt also beim weltweiten Aufblühen von Wissenschaft und Technik nicht als einziger eine führende Rolle. Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.

Das erste gedruckte Buch der Welt war die „Diamant-Sutra“

Es hat auch bedeutende Fortschritte gegeben, die auf einem umfassenden internationalen Austausch gänzlich außerhalb von Europa beruhten. Betrachtet man den Buchdruck, laut Francis Bacon eine der Entwicklungen, die das Gesicht der Welt und den Zustand aller Dinge verändert haben. Amartya Sen erklärt: „Alle während des ersten Jahrtausends unternommenen Versuche mit dem Buchdruck erfolgten weit außerhalb Europas. Auch gingen sie weitgehend auf Anregungen buddhistischer Intellektueller zurück.“

Diesen Gelehrten war sehr am öffentlichen Vortrag und der Verbreitung ihrer Ideen gelegen. Und so wurden denn auch die ersten Versuche mit dem Buchdruck in China, Korea und Japan allesamt von buddhistischen Handwerkern unternommen. Indische Buddhisten hatten mit ihren Bemühungen um die Entwicklung des Buchdrucks im 7. Jahrhundert weniger Erfolg. Aber sie steuerten das Material für das erste gedruckte Buch der Welt bei. Dabei handelt es sich um einen buddhistischen Sanskrit-Klassiker, allgemein bekannt als „Diamant-Sutra“.

Die Wissenschaft hat die ganze menschliche Zivilisation verändert

Diese Schrift übersetzte im Jahre 402 ein halb indischer, halb türkischer Gelehrter aus dem Sanskrit ins Chinesische. Amartya Sen stellt fest: „Der ungeheure Fortschritt der Ideen und Erkenntnisse in Europa und Amerika in den letzten Jahrhunderten verdient sicherlich, angemessen gewürdigt zu werden. Dem Abendland sind die bedeutenden Errungenschaften zu verdanken, zu denen es während der Renaissance, der Aufklärung und der industriellen Revolution in der westlichen Welt gekommen ist.

Dabei handelt es sich um Errungenschaften, welche die gesamte menschliche Zivilisation verändert haben. Es wäre jedoch ein schwerwiegender Irrtum anzunehmen, das alles sei aus der Blüte einer völlig abgeschlossenen „westlichen Kultur“ hervorgegangen, die sich in gänzlicher Isolation entwickelt hat. Denn Gelehrsamkeit und Denken in der Welt pflegen aufgrund von Entwicklungen in verschiedenen Regionen voranzukommen. Und angesichts dessen wäre es unangemessen, den Fortschritt einer imaginierten Absonderung der Kulturen zuzuschreiben. Quelle: „Die Identitätsfalle“ von Amartya Sen

Von Hans Klumbies