Jede nationale Geschichte Europas hat denselben Grundgedanken

Persönliche Erinnerungen, angefangen mit denen an die Hölle, die sich die Europäer auf Erden geschaffen haben, gehören zu den stärksten Triebkräften für alles, was Europa seit 1945 getan hat und geworden ist. Timothy Garton Ash nennt das den Erinnerungsmotor. Mehrere Generationen von Baumeistern Europas haben den Kontinent zu dem gemacht, was er zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist. Wenn man sich anschaut, welche Argumente man für die europäische Integration in den verschiedenen Ländern von den 1940er bis zu den 1990er Jahren vorbrachte, scheint jede nationale Geschichte auf den ersten Blick sehr unterschiedlich zu sein. Aber wenn man etwas tiefer gräbt findet man immer denselben Grundgedanken. Timothy Garton Ash ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University.

Europa mangelte es nicht an Albträumen

Timothy Garton Ash kennt ihn: „Wir waren an einem schlimmen Ort, wir wollen an einem besseren Ort sein, und dieser bessere Ort heißt Europa.“ Die Albträume, aus denen die europäischen Nationen zu erwachen versuchten, waren vielfältig und unterschiedlich. Für Deutschland war es die Scham und die Schande des verbrecherischen Regimes. Für Frankreich war es die Demütigung von Niederlage und Besatzung, für Großbritannien der wirtschaftliche und politische Niedergang.

Spanien musste eine faschistische und Polen eine kommunistische Diktatur abschütteln. Europa mangelte es nicht als Albträumen. Aber für die Menschen in all diesen Ländern war die Grundform des pro-europäischen Arguments die gleiche. Diese Form war ein langgezogenes, überschwängliches Häkchen. Timothy Garton Ash erläutert: „Ein steiler Abstieg, eine Kehrtwende und dann eine aufsteigende Linie, die in eine bessere Zukunft führte. Eine Zukunft namens Europa.“ Zu den Gründungsvätern der heutigen Europäischen Union gehörten Menschen, die man die 14er nennen könnte, die sich noch lebhaft an die Schrecken des Ersten Weltkriegs erinnerten.

Die Geschichte Nachkriegseuropas war kein Märchen

Einer von ihnen war der britische Premierminister Harold Macmillan, der mit brechender Stimme von der „verlorenen Generation“ seiner Zeitgenossen sprach. Nach ihnen kamen 39er wie der spätere polnische Außenminister Geremek, unauslöschlich geprägt durch die Traumata von Krieg, Gulag, Besatzung und Holocaust. Timothy Garton Ash ergänzt: „Das gilt ebenso für die französische Politikerin Simone Veil, die Auschwitz und Bergen-Belsen überlebte.“

Und dann waren da noch die 68er, die sich gegen die kriegsgeschädigte Generation ihrer Eltern auflehnten, von denen einige aber auch die Diktaturen in Süd- und Osteuropa aus erster Hand kannten. Timothy Garton Ash stellt fest: „Jede Generation hatte ihren langen Schweif: die Nach-39er wie Helmut Kohl zum Beispiel, der zu jung war, um im Zweiten Weltkrieg zu kämpfen, aber dennoch von ihm geprägt war, und die Nach-68er wie mich.“ Man muss sich natürlich davor hüten, die Geschichte Nachkriegseuropas in ein Märchen zu verwandeln, in dem weise, tugendhafte Helden aus ihren Erfahrungen mit der Hölle lernen und daraus dann den Himmel schaffen. Quelle: „Europa“ von Timothy Garton Ash

Von Hans Klumbies