Das Christentum basiert auf einer Vorstellungswelt

Noch nie war Europa mit dem Christentum identifiziert worden. Erst die Spätantike leitete diesen Wandel ein, bevor er sich im Mittelalter zu einem regelrechten Kampfbegriff entwickelte. Jürgen Wertheimer fügt hinzu: „Anderen ist er eine Chiffre für Hochmut und Ausgrenzung.“ Wie auch immer man dazu stehen mag, dieser Begriff verweist auf eine Vorstellungswelt. Diese hat vielleicht weniger mit dem historischen Mittelalter als mit einer Sehnsucht sehr viel späteren Zeiten nach Zusammengehörigkeit zu tun. So schwärmt der romantische Dichter Novalis 1799: „Es waren schöne, glänzenden Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte. Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs.“ Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

Das Christentum gelangte in Rom an die Macht

Dass diese „schönen, glänzenden Zeiten“ so nie existierten, ist eine andere Geschichte. Und dass das institutionalisierte Christentum gerade in Rom an die Macht gelangen sollte, war alles andere als zwingend. Jürgen Wertheimer erklärt: „Im vierten Jahrhundert war Rom in einem ruinösen Zustand. Byzanz, das neue Rom, stand im Zentrum.“ Und doch bildete sich genau in dieser Phase dasjenige heraus, was man über Jahrhunderte, Jahrtausende hinweg als Herz Europas empfand. Nämlich das Papsttum, der Vatikan, die heilige römisch-katholische Kirche.

Obwohl das „Nibelungenlied“ erst im 13. Jahrhundert niedergeschrieben worden war, liest sich dieses Epos wie eine Summe der Erfahrungen seit der Zeit der Völkerwanderung. Sowohl das Reich der Hunnen wie das der Germanen waren zu dieser Zeit längst zerfallen und gehörten der Geschichte an. Neue Königreiche wie das der „Burgunder“ begannen, sich zu formieren und vom Norden in südlichere Regionen zu ziehen. Möglicherweise an den Rhein, wohin das „Nibelungenlied“ den Sitz der Burgunder verlegt.

Christliche und germanische Werte befehdeten einander

Weitere historische Ereignisse wie die Hochzeit zwischen dem Hunnenführer Attila und der germanischen Fürstentochter Ildico (453) flossen ein. Man begegnet ihnen im Epos in Gestalt von Etzel und Krimhild. Im Ganzen ist es so, als sähe man viele der auftretenden Figuren im Rückspiegel einer längst vergangen Geschichte ein zweites Mal. Dietrich mitsamt seinem kaiserlich-oströmischen Double. Brunhild, die Zauberin aus Island im Schatten der altnordischen Edda.

Siegfried als Verwandten der nordischen Drachentöter und zugleich als römisch gebildeten Kelten. Schließlich den rätselhaft treuen und zugleich grandios bösartigen Hagen von Tronje. Die „Ilias“ dagegen kannte noch keine Figur wie Hagen, die das verräterische Böse im eigenen Lager, den Zwiespalt zwischen Verrat und Treue, Skrupellosigkeit und Loyalität verkörpert. Nur eine von Feindbildern besessene Kultur, in der christliche und germanische Werte einander befehdeten, konnte sie hervorbringen. Quelle: „Europa“ von Jürgen Wertheimer

Von Hans Klumbies