Timothy Garton Ash macht aus Europa eine persönliche Geschichte

Timothy Garton Ash ist Historiker, Kommentator und Zeitzeuge zugleich. Kenntnisreich, pointiert und sehr persönlich erzählt er in seinem neuen Buch „Europa“ die Geschichte des gleichnamigen Kontinents. Beginnend vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis auf den russischen Überfall auf die Ukraine. Timothy Garton Ash schreibt: „Dieses Buch ist eine persönliche Geschichte Europas. Es ist keine Autobiografie. Vielmehr ist es eine Geschichte, die durch persönliche Erinnerungen veranschaulicht wird.“ Dabei stützt sich der Autor auf seine eigenen Tagebücher, Notizhefte, Fotos, Erinnerungen, Lektüren, Beobachtungen und Gespräche während des letzten halben Jahrhunderts. Aber er greift dabei auch auf die Erinnerung anderer Menschen zurück. Timothy Garton Ash ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University.

Das heutige Europa lässt sich nur aus seiner Geschichte verstehen

Timothy Garton Ash zitiert aus seinen Gesprächen mit führenden europäischen Politikern, wenn dies zur Erhellung der Geschichte beiträgt. Aber er berichtet auch von den vielen Begegnungen mit sogenannten einfachen Leuten, die oft viel bemerkenswerte Menschen sind als ihre Politiker. Dabei bemüht sich der Autor stets darum, genau, wahrhaftig und fair zu sein, erhebt aber nicht den Anspruch, erschöpfend, unparteiisch oder objektiv zu sein. Europäer können mehrere Heimatländer haben, aber niemand ist in allen Teilen Europas gleichermaßen zuhause.

Das heutige Europa lässt sich nicht verstehen, wenn man nicht in die Zeit zurückgeht, die Tony Judt seiner Geschichte Europas nach 1945 als Titel gegeben hat: „Postwar“, Nachkrieg. Überlagert und in bedeutsamer Hinsicht verdrängt wird dieses Nachkriegsrahmen jedoch vom Nachmauereuropa. Dabei handelt es sich um das Europa, das nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989, dem Untergang der Sowjetunion im Dezember 1991 und dem Ende der Teilung des europäischen Kontinents in zwei feindliche Blöcke entstand.

Das heutige Europa ist viel besser als sein Ruf

Die Zeit nach der Mauer war in Europa keine Zeit ununterbrochenen Friedens. Für die Mehrheit der Europäer ließe sich diese Zeit dennoch als Dreißigjähriger Frieden bezeichnen. Er endete mit dem Angriffs Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022, der einen Krieg von einem Ausmaß und einer Grausamkeit auslöste, wie man ihn in Europa seit 1945 nicht mehr erlebt hat. Und 1945 ist der Punkt, an dem Timothy Garton Ashs Geschichte über den europäischen Kontinent beginnen muss.

Fatalismus ist nicht der Geist der heutzutage in Europa gefragt ist. Ein Rezept für mentale Stärke lautet: Erwarte das Schlimmste, arbeite für das Beste. Das heutige Europa ist trotz aller Fehler, Grenzen und Heucheleien, trotz aller Rückschritte der letzten Jahre immer noch viel besser als das Europa, das Timothy Garton Ash Anfang der 1970er Jahre zu erkunden begann. Ganz zu schweigen von der Hölle, die sein Vater als junger Mann erlebte. Timothy Garton Ash betont: „Es hat sehr wohl Sinn, ein freies Europa zu verteidigen, zu verbessern und zu erweitern. Es ist eine Sache, die unsere Hoffnung lohnt.“

Europa
Eine persönliche Geschichte
Timothy Garton Ash
Verlag: Hanser
Gebundene Ausgabe: 447 Seiten, Auflage 3: 2023
ISBN: 978-3-446-27615-4, 34,00 Euro

Von Hans Klumbies