Im 15. Jahrhundert war Deutschland unbekannt

Als sich das 15. Jahrhundert seinem Ende zuneigte, war Deutschland nach wie vor nur unvollständig bekannt. Sogar Beschreibungen des Charakters seines Volkes waren selten, sparsam im Detail und von mangelhafter Genauigkeit. Helmut Walser Smith fügt hinzu: „Keine Karte zeichnete die deutschen Lande maßstabsgetreu, keine Zeichnung zeigte seine Grenzen. Und noch niemand hatte Deutschland als Raum mit einer deutlich erkennbaren Form beschrieben.“ Vielleicht war die zweidimensionale, maßstabsgetreue Wahrnehmung für die Menschen ebenso unwichtig wie das eigene Geburtsjahr. Doch die Erfindung des Buchdrucks hatte die Möglichkeiten von Wort und Bild schon zu verändern begonnen. Sie hatte beiden Flügel verliehen, während die Entdeckungen jenseits des Atlantiks und entlang der zerklüfteten Küsten Afrikas eine neue Neugier auf die Welt weckten. Helmut Walser Smith lehrt Geschichte an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee.

Die Deutschen sehen ihr Land zum ersten Mal

In der Folge entstand allmählich eine Ästhetik realistischer Darstellung. Es kam zu einer epistemologischen Verschiebung des Raumempfindens, das nun nicht mehr in Form von Reisebeschreibungen in Form sogenannter Itinerare, sondern auf Karten beruhte. Als die Deutschen nach draußen und nicht nach innen blickten, versetzte diese Revolution der Vorstellungskraft sie in die Lage, ihr Land zum ersten Mal zu sehen. Das mittelalterliche Europa war zwar keine völlig kartenlose Welt, doch es sind nur ein paar wenige brauchbare Karten von Landflächen signifikanter Größe überliefert.

Dazu gehört beispielsweise die Darstellung der Britischen Inseln in der „Chronica maiora“ des Matthäus Paris. Diese entstand um 1250. Ende des 14. Jahrhunderts zeigten einige regionale Karten aus Italien weite Teile des Landes in zweidimensionaler Form. Bis Ende des 15. Jahrhunderts hatten Kartographen eine Reihe von Territorialkarten italienischer Regionen erstellt, darunter auch die Gegenden um Padua, Parma und Verona. Jenseits der Alpen hingegen waren beträchtliche Landflächen weiterhin unkartiert.

Berühmt ist die „mappa mundi“ aus der Zeit um 1300

Helmut Walser Smith weiß: „Statt Landkarten in zwei Dimensionen mathematisch abzubilden, krümmten mittelalterliche Karten nördlich der Alpen den Raum.“ Selbst damals waren die einzigen zweidimensionalen Darstellungen der deutschen Gebiete, die aus dem Hochmittelalter überliefert sind, Auszüge aus Weltkarten. Das wohl bekannteste Beispiel ist die Ebstorfer „mappa mundi“ aus der Zeit um 1300. Dabei handelt es sich um eine riesige kreisförmige, nach Osten ausgerichtete Karte mit einem Durchmesser von circa 3,5 Metern. Sie weist ungefähr 500 Gebäude auf. Diese stellen Städte, Kirchen, Burgen und Klöster dar.

Sie zeigt zudem mehr als 100 Gewässer, jede Menge Inseln und Berge, 45 menschliche oder menschenähnliche Geschöpfe sowie etwa 60 Tiere. Helmut Walser Smith stellt fest: „Anders als moderne Weltkarten, welche die Erde zu einem bestimmten Zeitpunkt darstellen, verschmolzen in der Ebstorfer Weltkarte Vergangenheit und Gegenwart.“ Nämlich zu einer umfassenden Geschichte Gottes, des Menschen und der Natur. Deshalb muss man sie als kartierte Sakralgeschichte beurteilen. Und sie nicht als maßstabsgetreue Darstellung der geografischen Welt auffassen. Quelle: „Deutschland“ von Helmut Walser Smith

Von Hans Klumbies