Die gesellschaftliche Mitte ist verunsichert

Die Frage nach dem Volk ist aktuell stärker ins Blickfeld gerückt als vielleicht jemals zuvor in der Nachkriegszeit. Es ist nicht die Einwanderung, sondern etwas, das Jan-Werner Müller als die „zweifache Sezession“ bezeichnet. Diese steht in Verbindung mit einer wachsenden Verunsicherung der gesellschaftlichen Mitte. Jan-Werner Müller erläutert: „Die erste Sezession, oder Abspaltung, ist, grob gesagt, die der privilegiertesten Gruppen. Sie werden heute oft unter der Kategorie der „liberalen kosmopolitischen Elite“ zusammengefasst.“ Das ist weniger ein analytisches Konstrukt als ein Schimpfwort, mit dem Rechtspopulisten gerne um sich werfen. Aber es ist auch ein Begriff, der von immer mehr Experten und Sozialwissenschaftlern so verwendet wird, als sei er neutral und immer schon klar, wer damit gemeint ist. Jan-Werner Müller ist Roger Williams Straus Professor für Sozialwissenschaften an der Princeton University.

Nicht alle Eliten sind kosmopolitisch

Die Bezeichnung ist jedoch in zweierlei Hinsicht irreführend. Erstens trifft es zwar zu, dass viele Eliten sehr mobil sind. Aber sie sind nicht notwendig kosmopolitisch in irgendeinem gehaltvollen moralischen Sinne, soweit man mit „kosmopolitisch“ nicht Leute mit dem höchsten Vielfliegerstatus meint. Sondern wenn man damit solche Menschen definiert, die der Überzeugung sind, dass alle Menschen in derselben moralischen Beziehung zu einander stehen. Oder einfach gesagt, dass Landesgrenzen keine wirkliche moralische Bedeutung besitzen.

Jan-Werner Müller betont: „Mobil sein ist keineswegs dasselbe wie universalistisch sein.“ Das sollte eigentlich niemanden wundern, seit im 19. Jahrhundert der Gedanke, dass Eisenbahnen dem Nationalismus den Garaus machen würden, sich als Illusion erwies. Andererseits verließ einer der größten universalistischen Moralphilosophen – Immanuel Kant – so gut wie nie seine Heimatstadt Königsberg in Ostpreußen. Gewiss, prominente Mitglieder diverser Eliten machen eine große Show aus ihrer internationalen Wohltätigkeitsarbeit.

Nicht alle Eliten leben in einer „gated community“

Aber man sucht unter ihnen vergeblich nach Fürsprechern wahrer globaler Gerechtigkeit wie sie in der politischen Philosophie verstanden wird. Nämlich einer echten weltweiten Umverteilung der Ressourcen und Lebenschancen. Der Begriff „kosmopolitisch“ ist noch in einer anderen Hinsicht irreführend. Denn in vielen westlichen Ländern folgen Wirtschafts- und Verwaltungseliten derweil immer noch eindeutig nationalen Karrierewegen. Zugleich scheinen vielen von ihnen in der Lage zu sein, jede wirkliche Abhängigkeit vom Rest der Gesellschaft hinter sich zu lassen.

Nicht jeder von ihnen lebt tatsächlich in einer geschlossenen Wohnanlage, einer „gated community“. Doch der grundlegende Trend zur Absonderung und Homogenisierung in Enklaven ist deutlich genug. Jan-Werner Müller stellt fest: „Die Gebildeten und Wohlhabenden heiraten untereinander, leben eng beieinander und reproduzieren viele ihrer Privilegien über Generationen hinweg.“ Nichts von alledem ist offenbar unmoralisch. Aber diese Separierungen haben natürlich Folgen dafür, wie die Gesellschaft verstanden wird und vor allem wie die Bürger einander betrachten. Quelle: „Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit“ von Jan-Werner Müller

Von Hans Klumbies