Tatbestand kann unterschiedliche Bedeutungen haben

Das Wort „Tatbestand“ erscheint den meisten Nichtjuristen als Inbegriff eines juristischen Begriffs. Es wird nicht selten mit der angeblichen Lebensfremdheit und Umständlichkeit, gern auch mit Spitzfindigkeit von Juristen assoziiert und in eins gesetzt. Thomas Fischer stellt fest: „Der Tatbestand ist der Schrecken all derer, die sich vom Strafrecht vor allem und sofort Gerechtigkeit im ganz persönlichen Fall und für ihr Anliegen erwarten.“ Aber wie meistens ist es so einfach nicht. Denn der Tatbestand als Rettung vor der puren Willkür ist so tief im Bewusstsein der deutschen Kultur verankert, dass selbst die dezidiert pure Willkür ihn noch als Legitimationsfigur missbrauchen muss. „Tatbestand“ kann, sogar in der Rechtssprache, unterschiedliche Bedeutungen haben. Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

Ein Sachverhalt meint ein reales Geschehen

In manchen Rechtsbereichen – zum Beispiel dem Zivilrecht, auch dem Verwaltungsrecht – wird als Tatbestand das bezeichnet, was in einem Fall tatsächlich passiert ist. Also die Tatsachen, von denen für ein Urteil oder eine andere Entscheidung auszugehen ist. Diese Tatsachen heißen im Strafrechtsjargon „Sachverhalt“. Wenn immer Strafrechtler also von einem Sachverhalt sprechen, meinen sie ein reales Geschehen. Wer nach dem Sachverhalt fragt, will wissen: Wie war es? Was sind die Fakten?

Dass man etwas als Sachverhalt bezeichnet, bedeutet nicht, dass es wahr, richtig oder bewiesen ist. Es ist zunächst einmal die Darstellung von äußeren und inneren Tatsachen. Dabei bedeutet Tatsache im Strafrecht nicht eine – philosophisch gesicherte – Wahrheit. Philologen und Philosophen ereifern sich gern über den Begriff der „falschen Tatsachen“. Dieser wird im materiellen und im formellen Strafrecht verwendet. Sie weisen darauf hin, dass es entweder Tatsachen oder Nichttatsachen gebe, aber keine „falschen“.

Es gibt einen äußeren und inneren Tatbestand

Geschenkt: Natürlich sind Behauptungen über Tatsachen gemeint, die „nicht wahr“ oder „nicht erweislich wahr“ oder „falsch“ sind. Jeder weiß dies. Der immer wieder einmal hervorgezogene Streit um die „falschen Tatsachen“ verkennt absichtlich das System strafrechtlichen Denkens. Und er bleibt dabei auf einem Niveau besserwisserischer Formalität. Thomas Fischer erläutert: „Tatbestand im Sinn des Strafrechts ist die Gesamtheit aller äußeren und inneren Merkmale – das heißt Umstände, Gegebenheiten.“

Diese sind in einer Strafrechtsnorm als erste und wichtigste Voraussetzung dafür aufgeführt, dass eine Person, die sie verwirklicht hat, schuldig gesprochen und deshalb aus dem angegebenen Strafrahmen bestraft werden kann. Das wird, etwas verkürzt, so ausgedrückt, eine Person haben einen „Tatbestand verwirklicht“. Man unterscheidet äußeren und inneren – objektiven und subjektiven – Tatbestand. Für Laien schwer zu erkennen ist, dass in vielen Normen der Strafgesetze manche Merkmale, die zum Tatbestand gehören, nicht ausdrücklich aufgeführt sind. Sondern sie müssen „mitgedacht“ werden. Quelle: „Über das Strafen“ von Thomas Fischer

Von Hans Klumbies