Der Einzelne ist gefährdet und anfällig

Die Einzelnen, so der von Georg Wilhelm Friedrich Hegel bis George Herbert Mead durchgespielte Gedanken, gewinnen nur in Bezug auf die anderen einen Begriff ihrer selbst. Das Leben schreitet unaufhörlich durch verschiedene Lebensphasen fort. Dazu zählen ein Ortswechsel, ein neuer Lebenspartner oder völlig zufällige Begegnungen. Deshalb verstricken sich die Menschen in ein immer dichteres und weiteres Netz wechselseitiger Abhängigkeiten. Dabei entstehen existentielle Schutzbedürfnisse. Heinz Bude ergänzt: „Wir suchen uns im Blick der anderen zu erkennen, und erleben in solchen Momenten, wie gefährdet und anfällig wir sind.“ Die Integrität des Einzelnen lässt sich nicht ohne die Integrität der sie haltenden Beziehungen und Verhältnisse wahren. Denn ein Individuum kann seine Identität niemals für sich allein behaupten. Seit dem Jahr 2000 ist Heinz Bude Inhaber des Lehrstuhls für Makrosoziologie an der Universität Kassel.

Gerechtigkeit ist ohne Solidarität nicht zu haben

Eine Ethik individueller Gleichbehandlung ist laut Jürgen Habermas notwendigerweise auf eine Ethik wechselseitiger Verbundenheit angewiesen. Die Menschen müssen wissen, was sie einander schulden. Denn sonst werden sie zu Trittbrettfahrern eines Systems austarierter Anrechte. Heinz Bude weiß: „Gerechtigkeit ist ohne Solidarität und Solidarität nicht ohne Gerechtigkeit zu haben.“ Der Ort des Befindens über die Gerechtigkeit heute ist der demokratische und soziale Rechtsstaat.

Dies trifft auf die meisten Länder zu, die den Vereinten Nationen angehören. Das staatliche Handeln spricht die einzelne Person als Träger eines Pakets subjektiver Rechte an. Diese beinhalten ihre bürgerlichen Freiheitsrechte auf Eigentum, Privatheit und Meinungsäußerung sowie ihre politische Teilnahme an Wahlen und Volksabstimmungen. Zudem gehören dazu soziale Wohlfahrtsrechte auf Versorgung und Ausgleich. Die Zivilgesellschaft ruft das unvertretbare, zerbrechliche und treue Individuum auf, das Schutz sucht, die Welt reparieren will und auf Resonanz angewiesen ist.

Barmherzigkeit ist eine andere Form der Gerechtigkeit

Die Zivilgesellschaft besteht aus den vielstimmigen Versuchen in Vereinen, Netzwerken, Verbänden, Nachbarschaften Formen der Verbundenheit und der Vergegenwärtigung zu entdecken. Heinz Bude erläutert: „Die Person behauptet ihre Unabhängigkeit und erkennt im Recht auf ihre Willkür den Kern ihrer Freiheit. Das Individuum erinnert sich an seine Abhängigkeit, gesteht sich seine Schutzbedürftigkeit ein und sucht seine Beständigkeit.“ In der jüdisch-christlichen Ethik ist Barmherzigkeit das Andere der Gerechtigkeit.

Und zwar weder als Voraussetzung noch als Ergänzung, sondern als Erfüllung. Gottes Gerechtigkeit, so die paradoxe Formel, ist die Barmherzigkeit. Das Alte Testament spricht davon, dass Gott ein gnädiger und barmherziger Gott ist, der sein Volk auch dann nicht im Stich lässt, wenn es den Bund mit ihm gebrochen hat. Und das Neue Testament nennt Gott den „Vater des Erbarmens und Gott allen Trostes“, der in seinem Sohn ein sterblicher Mensch geworden ist. Dadurch erfährt er das Leid und das Glück der Menschen wie ein Mensch. Quelle: „Solidarität“ von Heinz Bude

Von Hans Klumbies