Menschen brauchen Geschichten

Der Primatologe Frans de Waal beschreibt den unter Schimpansen stark ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und Fairness. Es ist also durchaus möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich, dass auch Homo sapiens über einen solchen angeborenen Sinn verfügt. Und es ist für Philipp Blom denkbar, dass hier der Beginn des Erzählens liegt: „Menschen brauchen Geschichten, denn statt Sinn und Ordnung bietet die erlebte Realität immer wieder Chaos und Ungerechtigkeit.“ Immer wieder werden Wünsche enttäuscht, überall entsteht unnötiges Leid, die wenigsten Menschen erfahren Gerechtigkeit. Dadurch entsteht das menschliche Bedürfnis nach einem Gegenentwurf zu diesem ambivalenten Erleben in der Sinnlosigkeit. Geschichten schaffen Handlung und Struktur, Sinn und Zweck, Tugend und Laster, Lohn und Strafe. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford.

Geschichten machen die Welt lesbar

Geschichten motivieren zielgerichtetes Handeln, das in der Realität immer wieder scheitert. Sie machen die Welt lesbar. So entsteht eine geteilte Parallelwelt. In dieser sind Menschen imstande, in größeren und komplexeren Gruppen zu leben. Denn sie können einander erkennen und lesen, ohne einander begegnet zu sein. So könnte Homo sapiens aus einer aufgeklärten Perspektive aussehen. Ein Primat, der gelernt hat, sich selbst zu überschätzen, der sich selbst unendlich wichtig ist, aber nichts und niemand anderem.

Der Mensch hat ein Bewusstsein, das auf instabilen Hormonen und abertausend Geschichten schwimmt. Gelegentlich ist er zu rationalen Entscheidungen fähig. Er verfügt über einen immensen Reichtum an Schönheit und Sinn, wenn auch aus einer rein narzisstischen Perspektive. Der Mensch ist ein Organismus, der über ein Welttheater mit seinesgleichen kommuniziert und universell träumen kann. Er lebt aber immer lokal geerdet, ein Staubkorn und eine Welt, wie schon Hamlet fand.

Ein Ende der Geschichte ist nicht erkennbar

Zygmunt Baumanns flüssige Moderne lässt sich so auch auf eine existenzielle Ebene bringen und verbindet sich hier mit ihrem Gegenteil. Nämlich den Überlegungen, die Bruno Latour über eine neue Erdung des Menschen in seiner lokalen, körperlichen und terrestrischen Existenz angestellt hat. In der Natur sieht Bruno Latour die verblüffende Komplexität und die kontinuierliche und aufmerksame Pflege, die sie erfordert. Eine neue Art von Homo sapiens wird fragmentarisch sichtbar.

Philipp Blom erläutert: „Von diesem faszinierenden, aber gefährlichen Wesen hat sich das rationale, autonome Selbst still verabschiedet, ein Abschied von historischen Ausmaßen.“ Der Mensch als Krone der Schöpfung, als Sinn und Zweck des Daseins, hat durch den Kolonialismus die entferntesten Winkel des Planeten erreicht. Wirtschaftswachstum und Ausbeutung, Aufklärung und romantische Rebellion: ein ewiges dialektisches Streben zum Ende der Geschichte, von Georg Wilhelm Friedrich Hegel bis Francis Fukuyama. Solche Ideen haben sich letztlich nicht durchgesetzt. Quelle: „Das große Welttheater“ von Philipp Blom

Von Hans Klumbies