Ohne Wahrheit gibt es keine Gerechtigkeit

Ohne die Erforschung der materiellen Wahrheit, so sagt das Bundesverfassungsgericht, „kann Gerechtigkeit nicht verwirklicht werden“. Das ist für Thomas Fischer eine Aussage, die starke und dezidierte Programmsätze enthält. Es gibt materielle, also „wirkliche“ Wahrheit und Unwahrheit. Es existiert ein normatives und empirisches Konzept, auf dessen Grundlage man zwischen beiden unterscheiden kann. Und es gibt eine Ansicht von Gerechtigkeit, die mit der Wahrheit oder der Verpflichtung zu deren Vorstellung nicht substanziell und zwingend verbunden ist: „Ohne Wahrheit keine Gerechtigkeit“, könnte man daraus schließen, würde damit aber überinterpretieren. Thomas Fischer stellt fest: „Denn was Wahrheit wirklich ist, und ob man sie im Einzelfall zutreffend und ausreichend erforscht hat, weiß das Verfassungsgericht auch nicht.“ Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

Gerechtigkeit ist eine Funktion von Kommunikation

Das ist nicht schlimm, denn bei allem begrifflichen Weihrauch hält sich das Gericht aus dem philosophisch-soziologischen Konzeptstreit weise heraus. Und es tut, was Gerichte können: Es entscheidet über Einzelfälle auf der Grundlage plausibler und legitimierbarer Regelsätze. Vielleicht könnte man behaupten: „Gerechtigkeit“ sei nur ein sprachliches Konzept über dem viel wichtigeren Postulat von „Wahrheit“ und „wirklicher Kommunikation“. Ihre endlos um sich selbst kreisenden Beschreibungen seien nur „verschiedene Interpretationen der Welt“ (Karl Marx), auf die es nicht ankommt angesichts der Aufgabe, „sie zu verändern“.

Zum ersten kann man „Gerechtigkeit“ nicht in einem ahistorisch-populären Sinn verwenden. Denn Gerechtigkeit ist nicht ein Konzept, das den Menschen aus einer höheren Perspektive gegeben oder gar als Pflicht aufgegeben ist. Es gibt keine moralisch überzeitliche Instanz, die eine solche Norm und ihre Maßstäbe bereithält und die Jahrtausende danach bewertet. „Gerechtigkeit“ ist ein Begriff von Menschen in ihrer konkreten sozialen Existenz, also: eine Funktion von Kommunikation.

Menschen definieren die Welt

Zum Zweiten kann man nicht wahllos zwischen Ebenen der Bedeutung wechseln und wählen. Die Definition der Welt wird bestimmt vom Prinzip des Subjekts und der Person, also der persönlichen Verantwortung. Zudem steht es politischen Systemen nicht frei, aus ideologischen Gründen zu irgendwelchen Konzepten von angeblicher „Gerechtigkeit“ überzugehen oder zurückzukehren, die sich mit dem Stand der Zivilisation und sozialen Entwicklung nicht vereinbaren lassen.

Das ist für Thomas Fischer keine Funktion aus bloßer Normativität. Es kommt letzten Endes nicht darauf an, ob die Vereinten Nationen oder andere internationale oder nationale Gremien beschlossen habe, was Gerechtigkeit sein soll und dass man sich danach zu richten haben. Vielmehr sind solche normativen Regeln ihrerseits Ergebnisse sozialer Verständigung auf jeweils gegebener Grundlage. Eine zum Beispiel völkisch-rassistische begründete angebliche Gerechtigkeit, wie sie heute rechtspopulistische Bewegungen vertreten, hat daher keinerlei Legitimation. Quelle: „Über das Strafen“ von Thomas Fischer

Von Hans Klumbies