Erinnerungen muss man mit Skepsis begegnen

In seinem neuen Buch „Die Jahreszeiten der Ewigkeiten“ gibt es das Kapitel „Intermezzo I“. Dort setzt sich der Karl-Markus Gauß mit Sprache und Identität auseinander. Der Autor schreibt: „In der Sprache erfahren wir als Erstes die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, und in der Sprache wird diese später täglich erlebt. Aber das Sprechen selbst ist nicht er wichtigste Akt, mit dem sich uns diese Zugehörigkeit erweist.“ Wichtiger als das tatsächliche Sprachvermögen ist seiner Meinung nach allerdings die soziale Spracherinnerung: an das Leid, den Mut, die Arbeit, die Hoffnungen der Vorfahren. Solche Erinnerung ist wichtig, aber man muss ihr wie jeder Erinnerung mit Skepsis begegnen. Karl-Markus Gauß lebt als Autor und Herausgeber der Zeitschrift „Literatur und Kritik“ in Salzburg. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und oftmals ausgezeichnet.

Viktor Orbán laufen die jungen Ungarinnen davon

„Intermezzo 2“ trägt die Überschrift „Kleine Charakterkunde“. Darin beschreibt Karl-Markus Gauß unter anderem den rechtschaffenen Lügner. Der größte Lügner, den er kennt, ist ein Mensch frei von Arglist. Die Lüge ist sein natürliches Element. Er bewegt sich in ihm wie der Fisch im Wasser, und wie der Fisch keine Schuld daran hat, dass er nicht atmen, fliegen, laufen kann, ist er nicht aus Charakterschwäche auf das Lügen gekommen. ER kann nicht anders als lügen. Und daher lügt er auch nicht, um etwas Unrechtes, Peinliches, Böses zu verbergen oder um sich einen Vorteil zu verschaffen.

Im Kapitel „Von der Sichtbarkeit“ erzählt er von Viktor Orbán, dem die jungen Ungarinnen davonlaufen. Denn sie sehen keine Zukunft in einem Land, in dem zum guten Auskommen der Schutz eines autoritären Kavaliers oder die Zugehörigkeit zu einer korrupten Partei gehört. Während die Ungarn scharenweise ihre Heimat verlassen, zeichnet Viktor Orbán ein Schreckensbild des dekadenten Westens, der zur Beute von Islamisten und Schwulen geworden ist.

Der Begriff Gerechtigkeit ist omnipräsent

In „Die Vermeidung der Trostlosigkeit“ stellt Karl-Markus Gauß fest, dass von nichts anderen in den politischen Debatten so häufig die Rede ist wie von der Gerechtigkeit. Es findet sich keine Partei, die ihre Anliegen nicht als gerecht anpreist. Ja sie verspricht sogar ein Mehr an Gerechtigkeit im gesellschaftlichen Leben herzustellen. Es gibt also viele konkurrierende Vorstellungen dessen, was für gerecht, und ebenso viele, was für ungerecht gilt. Karl-Markus Gauß schreibt: „Die Omnipräsenz des Begriffs hat aus diesem einen leeren Sack gemacht, in den jeder stopfen kann, was ihm gerade passt, um es auf dem politischen Ladentisch auszuleeren.“

Im Epilog berichtet der Autor, dass er sich bereits 2014, zu seinem sechzigsten Geburtstag vorgenommen hatte, genau fünf Jahre lang Tagebuch zu schreiben. Nichts hatte ihn davon abbringen können, fast täglich ein paar Zeilen niederzuschreiben, einen Gedanken, eine Beobachtung festzuhalten. Weder Tage des Glücks noch des Verdrusses konnten Karl-Markus Gauß stoppen. Ebenso wenig aufhalten konnten ihn Faulheit und auch nicht konzentrierte Arbeit, nicht öffentlicher Streit und auch nicht Krankheiten oder Sorgen. Eine Zusammenfassung aus den zwanzig Heften, die dabei entstanden sind, hat er nun in „Die Jahreszeiten der Ewigkeit“ veröffentlicht.

Die Jahreszeiten der Ewigkeit
Karl-Markus Gauß
Verlag: Zsolnay
Gebundene Ausgabe: 313 Seiten, Auflage 2: 2022
ISBN: 978-3-552-07276-3, 25,00 Euro

Von Hans Klumbies