Politische Umwälzungen hat es schon immer gegeben

Politische Umwälzungen wie die heutigen, die Familien und Freundschaften zerreißen, gesellschaftliche Klassen spalten und Bündnisse sprengen, hat es schon immer gegeben. Ein besonders lehrreiches Beispiel ist eine Affäre im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Dieses nahm viele Debatten des 20. Jahrhunderts vorweg und hält noch den Auseinandersetzungen des 21. Jahrhunderts einen Spiegel vor. Anne Applebaum blickt zurück: „Die Dreyfus-Affäre begann 1894 mit der Erkenntnis, dass es in den Reihen der französischen Armee einen Verräter geben musste. Irgendjemand gab Informationen an die Deutschen weiter, die gut zwei Jahrzehnte zuvor Frankreich besiegt und die Departments Elsass und Lothringen besetzt hielten.“ Anne Applebaum ist Historikerin und Journalistin. Sie arbeitet als Senior Fellow an der School of Advanced International Studies der Johns Hopkins University.

Die Affäre-Dreyfus spaltete die französische Gesellschaft

Der französische Militärgeheimdienst ermittelte und behauptete bald, den Schuldigen gefunden zu haben. Hauptmann Alfred Dreyfus war Elsässer, er sprach Französisch mit deutschem Akzent, und er war Jude, weshalb er in den Augen viele Landsleute kein echter Franzose sein konnte. Außerdem war er unschuldig, wie sich später herausstellen sollte. Der Spion war in Wirklichkeit ein Offizier namens Ferdinand Walsin-Esterházy, der einige Jahre später unehrenhaft aus der Armee ausscheiden und außer Landes fliehen musste.

Anne Applebaum weiß: „Doch die Ermittler fälschten Beweise und Aussagen. Dreyfus wurde vor ein Kriegsgericht gestellt, schuldig gesprochen und öffentlich gedemütigt. Vor einer johlenden Menschenmenge auf dem Marsfeld riss ihm ein Adjutant die Offiziersklappen von der Uniform und zerbrach seinen Degen.“ Danach wurde er auf die Teufelsinsel vor der Küste von Französisch-Guayana verbannt. Die folgende Kontroverse spaltete die französische Gesellschaft auf eine Weise, die heutzutage vielen Menschen plötzlich vertraut vorkommt.

Die Dreyfus-Gegner beugten Recht und Gesetz

Alfred Dreyfus war kein Spion. Um seine Schuld zu beweisen, mussten die Dreyfus-Gegner Beweise, Recht, Gesetz, gar die Vernunft in den Wind schlagen. Sie stilisierten sich als „echte Franzosen“ – die wahre Elite, im Gegensatz zur „fremden“ und treulosen Elite. Die Dreyfus-Anhänger wiesen darauf hin, dass der französische Staat die Pflicht habe, alle Bürger gleich zu behandeln, unabhängig von ihrer Religion. Auch sie waren Patrioten, wenngleich von einem anderen Schlag. Sie verstanden die Nation nicht als Volksstamm, sondern als Verkörperung bestimmter Ideale.

Dazu zählten sie Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit, Objektivität und Unabhängigkeit der Gerichte. Anne Applebaum stellt fest: „Diese beiden Versionen der Nation, diese Uneinigkeit darüber, „wer wir sind“, spaltete ganz Frankreich. Oder vielleicht zeigte sich auch nur ein Riss, der sich schon lange unter den selbstzufriedenen Prätentionen einer sich rasch industrialisierenden und modernisierenden Gesellschaft aufgetan hatte.“ Die Stimmung kochte hoch. Bündnisse änderten sich und mit ihnen Gästelisten. Quelle: „Die Verlockung des Autoritären“ von Anne Applebaum

Von Hans Klumbies