Ohne Mitgefühl gibt es keine Solidarität

Solidarität kann man nicht mit Barmherzigkeit gleichsetzen. Obwohl schwer vorstellbar ist, dass Solidarität ohne Mitgefühl möglich ist. Zudem kann man Solidarität nicht einfach nur als Sammelbezeichnung für menschliche Freundlichkeit, allgemeines Wohlwollen und sozialstaatliche Folgebereitschaft verwenden. Heinz Bude erläutert: „Solidarität berührt mein Verständnis von Zugehörigkeit und Verbundenheit. Zudem meine Bereitschaft, mich den Nöten und dem Leiden meiner Mitmenschen zu stellen. Und mein Gefühl der Verantwortung und Bekümmerung für das Ganze.“ Auf Solidarität pfeift, wer nur an sich glaubt, Solidarität entbehrt, wer die anderem ihrem Schicksal überlässt, und Solidarität ist ein Fremdwort für Menschen, denen der Zustand des Gemeinwesens gleichgültig ist. Heinz Bude studierte Soziologie, Philosophie und Psychologie. Seit dem Jahr 2000 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Makrosoziologie an der Universität Kassel.

Solidarität verpflichtet sich dem großen Ganzen

Der Begriff der Solidarität kommt vielen wie eine überkommene und ausgeleierte Begriffsschablone vor. Dieser befriedig höchstens sentimentale Bedürfnisse nach einer guten alten Zeit, aber man verwendet ihn trotzdem immer wieder. Vor allem dann, wenn es um den Ausdruck des Überdrusses mit dem Menschenbild des rationalen Egoisten geht. Oder gar um eine Abrechnung mit dieser merkwürdigen Periode des Neoliberalismus der letzten dreißig bis vierzig Jahre geht.

Untersucht man den Begriff näher, purzeln einem ganz verschiedene Worte aus ganz unterschiedlichen Zeiten entgegen. Da findet man beispielsweise den Freundschaftsbegriff des Aristoteles aus dessen „Nikomachischer Ethik“ mit dem Satz: „Und wo Freunde sind, bedarf es keiner Gerechtigkeit.“ Und wenn man dem Freunde um seiner selbst willen das Gute wünscht, braucht es in der Tat keine Begründung dafür, was ihm zusteht und was man von ihm verlangen kann. Generell gilt: Die Bedeutung von Solidarität, die Solidität mit sich bringt, ist abgeleitet von der Rechtsidee einer Schuld oder Verpflichtung fürs Ganze.

Die Bürger wollten sich selbst regieren

Die Formel, mit der die neuere Geschichte des Begriffs der Solidarität beginnt, ist die der Französischen Revolution von 1789: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Hier ist aber nicht Gott, sondern ein Mord der Bezugspunkt einer politischen Brüderlichkeitsethik. Die „Multitude“ von Paris verwandelte sich durch die Enthauptung von Ludwig XVI. und seiner jungen Frau Marie Antoinette zu einem Volk im Kampf um Freiheit und Gleichheit. Der politische Körper des Königs von Frankreich wurde durch den des französischen Volkes ersetzt.

Danach war der dritte Begriff neben den beiden Rechtsbegriffen der Freiheit und der Gleichheit die Brüderlichkeit. Nicht die Gerechtigkeit oder die Vernunft oder die Einheit. Die Brüder hatten den Vater der großen französischen Familie ermordet und hatten sich im Namen der Freiheit und Gleichheit an seine Stelle gesetzt. In der politisch sich selbst erwählenden Nation, in der Napoleon später sich selbst die Kaiserkrone aufsetzen sollte, rissen die Brüder die Macht des Vaters an sich. Sie fassten im Gefühl der brüderlichen Macht den Mut, sich selbst zu regieren. Quelle: „Solidarität“ von Heinz Bude

Von Hans Klumbies