Die Vernunft ist die Sklavin der Leidenschaften

Seit Platon waren sich die Philosophen bewusst, dass die Sinne täuschen und Überzeugungen irregeleitet sein können. Aber sie nahmen an, dass den Menschen von Natur aus ein Drang zur Wahrheit innewohne und die Vernunft sie auf dem Weg zu ihr leiten würde. Jonathan Rauch blickt zurück: „Vor fast 300 Jahren formulierte der schottische Philosoph David Hume seine Kritik an dieser Standardauffassung.“ In seinem „Traktat über die menschliche Natur“ trug er eine der in dieser Sache entschiedensten und bekanntesten Thesen vor. Er schreibt: „Die Vernunft ist die Sklavin der Leidenschaften und sollte auch nur das sein. Auf kein anderes Amt kann sie Anspruch erheben als ihnen zu dienen und zu gehorchen.“ Jonathan Rauch studierte an der Yale University. Als Journalist schrieb der Politologe unter anderem für das National Journal, für The Economist und für The Atlantic.

Symbolisches Denken ist für das Überleben nützlich

Dabei leugnet David Hume nicht die Funktion der Vernunft als eines Denkwerkzeugs. Sondern er nimmt an, dass sie wie der Lotse auf dem Beifahrersitz sei: fähig zwar, die Richtung vorzugeben, aber nicht dazu, den Wagen zu lenken. Jonathan Rauch fügt hinzu: „Am Steuer säßen vielmehr unsere Emotionen und moralischen Intuitionen. In den letzten Jahrzehnten hat ein regelrechter Wust an Forschungsarbeiten den Streit zwischen Hume und den Klassikern entschieden. Hume hat gesiegt.“

Jonathan Rauch kommt wieder zum Naturzustand zurück, zu dem also, was Forscher die Umwelt der evolutionären Anpassung nennen. Warum sind die höheren Denkfunktionen – Stolz und Glück des Homo sapiens – überhaupt entstanden? Gewiss sind das Betreiben von Arithmetik, der Gebrauch von Symbolen und eine Kommunikation in begrifflicher Gestalt für das Überleben nützlich. Allerdings überleben und gedeihen auch noch alle möglichen anderen Arten von Geschöpfen und bilden fein austarierte soziale Gruppen, und das ohne die Hilfe des symbolischen Denkens.

Mit guten Gründen kann man andere überzeugen

Jonathan Rauch weiß: „Die moderne Forschung vertritt die Ansicht, dass das Denken nicht entstanden ist, weil die Menschen überleben, sondern weil sie überzeugen mussten.“ Ursprünglich lebten die Menschen in Kleingruppen oder Stämmen zusammen. Das Überleben hing davon ab, ob man fähig war, sich einen sicheren Platz innerhalb der Gruppe für einen selbst oder die eigenen Kinder zu verschaffen. Geschnitten, zurückgelassen oder verstoßen zu werden, konnte tödlich enden.

Im Gegensatz konnte ein hoher Status Ressourcen und Fortpflanzungsmöglichkeiten mit sich bringen. Ein Weg, sich Dominanz zu verschaffen, war der körperliche, also das Töten oder Unterwerfen von Konkurrenten. Allerdings regt diese Strategie die Rivalen dazu an, Bündnisse zu schmieden und einen Krieg zu beginnen. Die Gabe der Persuasion hat im Vergleich dazu geringere Kosten und einen größeren Nutzen. Gründe anzugeben ist, wie sich zeigt, eine gute Methode, um andere zu überzeugen, und daher können diejenigen prosperieren, die dieses Verfahren gut beherrschen. Quelle: „Die Verteidigung der Wahrheit“ von Jonathan Rauch

Von Hans Klumbies