Vor dem Bildschirm sitzen die Zuschauer stets in der ersten Reihe

Von den Menschen früherer Zeiten unterscheidet die heute lebenden, dass sie Zuschauer geworden sind. Alain Finkielkraut erklärt: „Wir schauen Ereignissen zu, von denen unsere Vorgänger durch mündliche Berichte oder die Lektüre erfuhren. Dieses „Wir“ kennt keine Ausnahme mehr: Ganz gleich, wo wir leben, mit dem Bildschirm sitzen wir stets in der ersten Reihe.“ Das Bild von George Floyd, dem am 25. Mai 2020 in Minneapolis gezielt die Luft abgedrückt wurde, ist um die ganze Welt gegangen, ein unerträgliches Bild. „Ich kann nicht atmen“, keuchte der Farbige, während ihm sein Peiniger ungerührt und sogar lächelnd das Knie auf den Hals drückte, bis er starb. Die Amerikaner, die danach spontan auf die Straße gegangen sind, um ihre Empörung kundzutun, versteht Alain Finkielkraut umso besser, als der Mord an George Floyd nicht der erste seiner Art war. Alain Finkielkraut gilt als einer der einflussreichsten französischen Intellektuellen.

Das Sichtbare ist nicht die ganze Wahrheit

Man ist stark versucht, aus diesem Bild, das sich in das Gedächtnis vieler Menschen eingebrannt hat, auf das Wesen Amerikas zu schließen. Alain Finkielkraut glaubt jedoch, dass man sich davor hüten muss. Sehen heißt nämlich nicht wissen. Selbst wenn es wie wahr erscheint, zeigt das Sichtbare nicht die ganze Wahrheit. Die Emotion muss die Reflexion anregen, doch die Erkenntnis kann sie nicht ersetzen. Denn es gibt Zahlen: Seit dem 1. Januar 2015 sind laut Datenbank der „Washington Post“ doppelt so viel Weiße (2416) von der Polizei getötet worden wie Schwarze (1213).

Gewiss die Zeitung „Libération“ weist zu Recht darauf hin, dass das Verhältnis sich umkehrt, wenn man den jeweiligen Bevölkerungsanteil berücksichtigt. Alain Finkielkraut erläutert: „Doch in diesem Land, in dem die Polizisten den Finger schon deswegen schnell am Abzug haben, weil so viele Bürger bewaffnet sind, kann man nicht vom „systembedingten“ oder „strukturellen“ Rassismus der Ordnungskräfte sprechen. Auch ein Blick in die Geschichte ist hilfreich.

Die wirtschaftlichen Ungleichheiten in den USA nach wie vor erheblich

Alain Finkielkraut blickt zurück: „Man denke an den Sezessionskrieg, der die Sklaverei beendete; die Abschaffung der Rassentrennung durch die Bürgerrechtsbewegung: die „affirmative action“ – oder positive beziehungsweise umgekehrte Diskriminierung –, die an den Universitäten eingeführt wurde, um die formale Gleichberechtigung durchzusetzen, und auch für Präsident Barack Obama mit seinen zwei Amtszeiten galt.“ Außerdem stehen heute an der Verwaltungsspitze zweier ehemaliger Bastionen der Rassentrennung farbige Amtsinhaber.

Und daneben existiert das unverzichtbare Zeugnis der Literatur. Alain Finkielkraut weiß: „Philip Roth zeigt in „Der menschliche Makel“, wie es in den USA nicht mehr der Rassismus ist, durch den man den Ruf eines Menschen ruinieren und Berufskarrieren zerstören kann, sondern der Antirassismus.“ Dennoch sind die wirtschaftlichen Ungleichheiten nach wie vor erheblich in diesem Land, das sich gern als das der unbegrenzten Möglichkeiten darstellt, und es sind die Kinder der Farbigen, welche die Zeche für den Zusammenbruch des öffentlichen Bildungswesen zahlen müssen. Quelle: „Vom Ende der Literatur“ von Alain Finkielkraut

Von Hans Klumbies

2 Gedanken zu „Vor dem Bildschirm sitzen die Zuschauer stets in der ersten Reihe“

  1. Himmel, ich sehe gerade: jeden Tag ein neues Buch.
    Und die Essenz dessen genial zusammengefasst.
    Wie macht das der Hans Klumbies nur?!?!

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