Die Pluralität der Meinungen führt zur Wahrheit

Orientiert man sich an Sokrates, so liegt die besondere Stellung des Philosophen gerade nicht in einem gegenüber dem Feld der Meinung substanziell verschiedenen Zugang zur Wahrheit. Auch er kann schließlich die Bedingung der Endlichkeit nicht überwinden. Sie liegt vielmehr in einer Bereitschaft zur staunenden Infragestellung der eigenen Überzeugungen. Nur wenn man die Pluralität der Meinungen selbst vergleicht, kann man allein die Wahrheit erschließen. Und dies immer wieder neu. Juliane Rebentisch erläutert: „Denn in ihrer Abhängigkeit vom Abgleich der Perspektiven muss die Wahrheit geschichtlich und also als fallibel gedacht werden.“ Laut Sokrates besteht die Rolle des Philosophen nicht darin, den Staat zu regieren, sondern dessen Bürger permanent zu irritieren. Juliane Rebentisch ist Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main.

Sokrates war ein Meister der Polemik

Es fällt Juliane Rebentisch nicht schwer, im sokratischen Modell des Intellektuellen einen Vorläufer des Ahnherrn und Meisters aller Polemik in der deutschen Sprache zu sehen. Nämlich einen Vorläufer von Gotthold Ephraim Lessing. Dennoch ist die Lage für Lessing einer grundsätzlich andere als für Sokrates. Heutzutage weisen Schlagwörter wie „postfaktisches Zeitalter“ oder „alternative Fakten“ auf die jüngste Krise der Wahrheit hin. Das Problem der Rede von „alternative facts“ liegt dabei nicht bei „alternative“, sondern bei „facts“.

Denn die „facts“ werden ohne jede Beweisführung, nämlich im Gestus schlichter Faktenfeststellung behauptet. Juliane Rebentisch stellt fest: „Es geht in solchen Fällen jedenfalls offenkundig nicht darum, die Gegenseite von der Evidenz einer alternativen Wahrheit zu überzeugen. Vielmehr werden die anderen als Gegenüber entwertet, wird ihr Einsatz im Feld der Gründe von vornherein diskreditiert.“ Die Berechtigung der öffentlichen Gegenrede bestreitet man kategorisch – sozusagen gegen alle Evidenz.

Lügen haben keine großen Konsequenzen mehr

Davon zeugt die auch hierzulande erschreckend um sich greifende Rede von der manipulativen „Lügenpresse“. Ebenso erschreckend ist die Verunglimpfung politischer Gegner als „korruptes Establishment“. Hier, in der Bestreitung des Streits um die Wahrheit, liegt die Ungeheuerlichkeit des Vorgangs. Die „alternativen Fakten“ präsentiert man als Alternativen, zu denen es selbst keine mehr geben soll. Genau deshalb spricht man die positivistische Sprache der Fakten immer dann an, wenn man die Orientierung der Öffentlichkeit an der Wahrheit mit Füßen tritt.

Auch die Diagnose eines „postfaktischen Zeitalters“ erscheint für Juliane Rebentisch in diesem Licht irreführend. Sie setzt nicht nur den positivistischen Begriff der Tatsachenwahrheit voraus. Zudem stellt diese Diagnose auf den falschen Problemzusammenhang scharf. Politische Falschbehauptungen, auch Lügen, hat es schon immer gegeben. Neu ist vielmehr der Umstand, dass der Nachweis der Lüge keine großen Konsequenzen mehr hat. Denn die politischen Akteure bestreiten den gemeinsamen Raum, in dem dies der Fall sein könnte. Quelle: „Der Streit um Pluralität“ von Juliane Rebentisch

Von Hans Klumbies