Die eine unabhängige Wahrheit gibt es nicht

Gotthold Ephraim Lessing war davon überzeugt, dass es die eine unabhängige Wahrheit nicht gibt. Sondern dass es Wahrheit nur durch den Vergleich der Perspektiven verschiedener Menschen geben kann. Denn im Streit der Meinungen, im Prozess des Austauschs von Gründen, ist es möglich, dass die jeweils perspektivischen Bestimmungen der Wahrheit an Allgemeinheit gewinnen. Dadurch werden sie mehr als subjektive, willkürliche Bestimmungen oder bloße Meinungen. Juliane Rebentisch erklärt: „Dennoch aber, und auch das war Lessing durchaus bewusst, kann keine Bestimmung der Wahrheit die Bedingung der Endlichkeit aufheben. Auch die jeweils als allgemein gültig akzeptierten Bestimmungen bleiben prinzipiell an die Möglichkeit ihrer Bestreitung ausgesetzt.“ Nichts, auch das, was sich als Wahrheit etablieren mag, ist vor dieser Möglichkeit sicher oder sollte es sein. Juliane Rebentisch ist Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main.

Die Wahrheit kann bei jedem Streit nur gewinnen

In diesem Sinne, so war Gotthold Ephraim Lessing überzeugt, kann die Wahrheit bei jedem Streit nur gewinnen. Denn noch jeder Streit hat „den Geist der Prüfung genährt“. Zudem hat er Vorurteil und Ansehen in einer beständigen Erschütterung erhalten. Kurz er hat die geschminkte Wahrheit verhindert, sich an der Stelle der Wahrheit festzusetzen. Die Begeisterung für ein derart „unorthodoxes“ oder genauer nachmetaphysisches Wahrheitsverständnis verbindet Hannah Arendt nicht nur mit Lessing, sondern auch mit Friedrich Nietzsche.

Gleiches gilt für das nonkonformistische Misstrauen allem gegenüber, was man gemeinhin für objektiv und unverrückbar wahr hält. Das gilt auch für die Bereitschaft, gewohnte Perspektiven und Wertungen umzukehren, und für einen gewissen Zug zur sprachlichen Zuspitzung. Juliane Rebentisch stellt fest: „Bei allen dreien – Lessing, Nietzsche, Arendt – nährt sich der polemische Geist aus der Überzeugung, dass kein Mensch jemals im Besitz der Wahrheit sein kann.“

Die Perspektiven der Sterblichen sind beschränkt

Den „eingeschränkten Göttern“, wie Hannah Arendt Gottfried Ebrahim Lessing zitiert, ist Wahrheit nur im Medium des intersubjektiven Vergleichs ihrer Perspektiven möglich. Je mehr verschiedene Augen man sich für die dieselbe Sache einzusetzen weiß, desto vollständiger wird der Begriff dieser Sache und damit die Objektivität sein. Diese These vertritt Friedrich Nietzsche in „Zur Genealogie der Moral“. Die beschränkten Perspektiven der Einzelnen erscheinen dann nicht als unüberwindbare Hindernisse, wenn es darum geht, zur Objektivität der Welt vorzudringen.

Juliane Rebentisch erläutert: „Ein solcher erkenntnistheoretischer Perspektivismus geht, wie Arendt immer wieder hervorgehoben hat, philosophiegeschichtlich auf Sokrates zurück.“ Seinen Anspruch „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ versteht Hannah Arendt als Ausdruck einer tiefen Einsicht in die beschränkten Perspektiven der Sterblichen. Entgegen der seit Platons Höhlengleichnis etablierten Unterscheidung von philosophischer Wahrheit und bloßer Meinung nimmt Hannah Arendt entschieden für Sokrates Partei. Quelle: „Der Streit um Pluralität“ von Juliane Rebentisch

Von Hans Klumbies

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