Wahrheit ist der Wille der Überwältigung

Für Friedrich Nietzsche bedeutet der Wille zur Wahrheit: „Ich will nicht täuschen, auch mich selbst nicht.“ Und hiermit befindet er sich auf dem Boden der Moral. Im Nachlass vom Herbst 1887 findet sich sogar noch eine Steigerungsform. Wahrheit sei ein Name „für den Willen der Überwältigung. Wahrheit hineinlegen, als ein aktives Bestimmen, nicht als Bewusstsein von etwas, das an sich fest und bestimmt wäre. Es ist ein Wort für den Willen zur Macht.“ Christian Niemeyer weist darauf hin, dass man gegen diese Pointe das Bedenken vortragen könnte, Friedrich Nietzsche moralisiere hiermit das Wahrheitsproblem. Und er verfehle die in seinem Grundansatz an sich die sehr viel zwingendere Psychologisierung des Moralbegriffs. Der Erziehungswissenschaftler und Psychologe Prof. Dr. phil. habil. Christian Niemeyer lehrte bis 2017 Sozialpädagogik an der TU Dresden.

Friedrich Nietzsche erzeugt einen neuen Menschentypus

Dieser Einwand verliert indes an Kraft, wenn man der späten bildungsphilosophischen Pointe dieser wahrheitstheoretischen Position Friedrich Nietzsches nachgeht. Und dabei den Vergleich sucht zur Bildungsphilosophie des frühen Nietzsche. Sie fand ihren literarischen Ausdruck vor allem in der „Geburt der Tragödie“. Sie zielte auf Wiedergewinn der ästhetischen Rechtfertigung der Welt und des Daseins durch die Erzeugung eines neuen Menschentypus.

Dieser war in der Lage, die Stelle des kunstfeindlichen, asketischen Bildungsphilisters einzunehmen. Die Stelle dessen also, der als ein sokratischer respektive theoretischer Mensch von dem Glauben an eine Korrektur der Welt, an ein durch Wissenschaft geleitetes Leben beseelt war. Ein Jahr später, in „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ fand Friedrich Nietzsche zu einem Begriffssystem, um das von ihm Intendierte etwas deutlicher zu machen. Wichtig ist dabei: Die Stelle des von ihm abgelehnten Menschentypus vertritt der „vernünftige Mensch“.

Friedrich Nietzsche bevorzugt den intuitiven Menschen

Diesem zur Seite gestellt oder ihm als Vorbild vorgehalten wurde der „intuitive Mensch“. Dieser war Friedrich Nietzsche zufolge erstmals im älteren Griechenland siegreich gewesen. Dort konnte sich eine Kultur gestalten und die Herrschaft der Kunst über das Leben sich gründen. Entsprechend spielte der „vernünftige Mensch“ in Friedrich Nietzsches Aufbereitung des Themas eher den lächerlichen Part. Der bedürftige Mensch rettet sich durch das Leben, indem er sich an jenes ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe klammert.

Dem freigewordenen Intellekt sind die Balken und Bretter nur ein Gerüst und Spielzeug für seine verwegensten Kunststücke. Christian Niemeyer erklärt: „Das Wort vom freigewordenen Intellekt ist hier, als positives Attribut, dem intuitiven Menschen beigegeben.“ Und zwar zum einen, um ihn unterscheidbar zu machen vom vernünftigen Menschen, dessen Intellekt noch dem Imperativ der Verstellung zum Zweck seines Bestehens im Kampf ums Dasein unterliegt. Zum anderen aber, um das dem intuitiven Menschen eigene ästhetische Verhalten im Umgang mit der Welt und den Begriffen zu kennzeichnen. Quelle: „Auf die Schiffe, ihr Philosophen!“ von Christian Niemeyer

Von Hans Klumbies