Das Subjekt mutiert zum Objekt

Wer zu viele Fragen stellt, statt sich mit den verfügbaren Erklärungsvideos zufriedenzugeben, lebt riskant. Man verliert die Zeit, die andere nutzen, um als Erste abzuräumen. Man versäumt es, die Entweder-Oder-Taste zu drücken. Und dann? Rebekka Reinhard erläutert: „Dann steht der Erfolg, herausgerissen aus dem binären System, plötzlich als isolierte Größe da. Und es stellt sich heraus: Er repräsentiert nicht die Wahrheit, sondern die Lüge.“ Denn der Gewinn, den das vom Erfolgsheroismus infizierte, zum Objekt mutierte Subjekt einzuheimsen meint, zerrinnt ihm zwischen den Fingern. Klicks, Likes, Status, Reputation begründen keine reiche, sondern eine arme Existenz. Die Illusion eines guten Lebens. Die vermeintlichen Erfolgshelden rennen und rennen. Aber die Entwickler der Nullen-und-Einsen-Welt sind längst zehn Schritte weiter. Die Philosophin Rebekka Reinhard war bis zur Einstellung der Zeitschrift stellvertretende Chefredakteurin des Magazins „Hohe Luft“.

Freiheit ist gefährlich

Die technologisch Versierten, die Behavioristen, Spieleentwickler und Plattformökonomen haben ihr System an die Stelle der kritischen Urteilskraft gesetzt. Deren Tools konditionieren die User darauf, Selbstdenken in Computer-Logik zu konvertieren. Ihnen gehört der Erfolg, dem entweder-oder-hörigen Subjekt, das Scheitern und Katastrophen partout zu verhindern sucht, bleibt nur die verlorene Freiheit. Streng untersagt ist dabei die ineffiziente Sehnsucht nach so etwas wie Innehalten, Reflektieren oder Nachspüren.

Wozu? Wohin? LinkedIn-Gründer Reid Hoffman sagt: „Es gibt keine wahres Selbst irgendwo in dir drinnen, das du durch Selbstbeobachtung entdecken könntest und das dir die Richtung weisen könnte.“ Vom Standpunkt des guten Lebens aus ist für Rebekka Reinhard diese Behauptung so falsch wie die Gleichung „Vier plus vier ist fünf“. Die Freiheit, ihr öffentlich widersprechen zu können, ist mehr wert, als die Jagd nach Erfolg es je sein könnte. Freiheit ist gefährlich und sie ist ein Aufbegehren gegen Passivität. Sie ist das Ende der Kontrolle und der Anfang der Ungewissheit.

Zu einem guten Leben gehören Werte wie Liebe und Freiheit

Ein freier Mensch denkt bei „Suche“ nicht Google, sondern Experiment oder Unterwegssein. Rebekka Reinhard ergänzt: „Er weiß, dass der Erfolgsheroismus Bullshit ist. Er sieht es mit seinem Herzen.“ Das Alleinstellungsmerkmal des Menschen ist seine Menschlichkeit. Das heißt auch: seine Freiheit, seine Kreativität. Er kann ungeahnte subversive Kräfte entfalten – mit der Technologie, nicht gegen sie. Er kann jederzeit das Laborrattenkostüm abstreifen und die Reset-Taste drücken. Der Mensch muss sich nur trauen.

Rebekka Reinhard betont: „Was wir eigentlich, wirklich wollen könnten, liegt quer zum monetären Erfolg. Ein gutes Leben für uns und andere, in dem wir uns aufgrund altbekannter, nicht quantifizierbarer Werte zu Hause fühlen.“ Dazu zählen Werte wie Wahrhaftigkeit, Sinn, Vertrauen, Liebe, Solidarität – und Freiheit. Könnte man anstelle des großen Entweder-Oder ein noch größeres Sowohl-als-Auch setzen? Jaron Lanier sagt: „Der Umstand, dass etwas unscharf oder ungenau ist, bedeutet nicht, dass es nicht real ist.“ Quelle: „Wach denken“ von Rebekka Reinhard

Von Hans Klumbies