Kollektive Identitäten sind soziale Konstruktionen, können sich also wandeln. Sie sind jedoch ein zweischneidiges Schwert. Joachim Bauer erläutert: „Einerseits sind sie eine unvermeidliche Ergänzung der jeweils individuellen Identität eines Menschen. Sie gegen den in einer Identität vereinten Menschen, vor allem in Zeiten der Not, in Krisen oder Katastrophensituationen, ein Gefühl der Zugehörigkeit und Sicherheit.“ Andererseits bergen kollektive Identitäten die Gefahr, dass Menschen sich gegenseitig nicht mehr als menschliche Individuen wahrnehmen, sondern andere Menschen – und sich selbst gleich mit – kategorisieren, also „in eine Schublade stecken“. Andere Menschen nur aufgrund ihrer kollektiven Identität wahrzunehmen kann einerseits zu – allerdings oft auch fragwürdigen – Freundschaften oder Bündnissen, andererseits aber auch zu Feindschaften und Hass führen. Prof. Dr. Med. Joachim Bauer ist Neurowissenschaftler, Psychotherapeut und Arzt.
Gruppenidentität
Der Kapitalismus verlangt Agilität und Anpassungsfähigkeit
Eigentlichkeit und Kapitalismus gehen in der Regel nicht zusammen. Sie sind miteinander inkompatibel. Alexander Somek erklärt: „In eine kapitalistischen Gesellschaft erwartet „man“ von uns, dass wir uns als eine agile und anpassungsfähige Humanressource verstehen. Eine Gesellschaft dieser Art stellt die Karriere und den Erfolg als erstrebenswerte Güter in Aussicht.“ Agilität und Anpassungsfähigkeit sind der Preis, den man entrichten muss, um ihrer teilhaftig zu werden. Wer keine Aussicht hat, als Anwalt erfolgreich zu sein, als Anwalt erfolgreich zu sein, wir halt Chirurg oder umgekehrt. Wer sich diesen Normen fügt, auf den mag Theodor W. Adornos Diktum, das zwar herabwürdigend klingen mag, zutreffen, wonach es für viele Menschen eine Anmaßung sei, „ich“ zu sagen. Alexander Somek ist seit 2015 Professor für Rechtsphilosophie und juristische Methodenlehre an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.