Stammesmentalität hindert oft beim klaren Denken

Menschen denken in Gruppen und drehen in Gruppen durch. Doch um wieder zu Sinnen zu kommen, ist jeder auf sich gestellt. Philipp Hübl weiß: „Unsere Stammesmentalität hindert uns oft am klaren Denken.“ Mit der progressiven Revolution legen viele Menschen insgesamt weniger Wert auf Autorität und Loyalität und sind dadurch weltweit weniger kollektivistisch. Doch gerade im Internet kann man eine „Retribalisierung“ beobachten, nämlich die Ausbildung moderner Stämme und die Radikalisierung der Etablierten. Es kämpfen neue Rechte gegen alte Linke, Veganer gegen Fleischesser, Fahrradfahrer gegen Autofahrer, Impfgegner gegen Naturwissenschaftler, Gläubige gegen Atheisten. Denn wer aus dem Blickwinkel seiner Stammesidentität lange genug hinschaut, entdeckt immer irgendwo Nachteile für die eigene Gruppe und moralische Verstöße bei den anderen Gruppen. Philipp Hübl ist Philosoph und Autor des Bestsellers „Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie“ (2012).

Die meisten Menschen wollen ortsgebunden beheimatet sein

Nur wer sich weniger einzelnen Stämmen zuordnet und von Angesicht zu Angesicht miteinander streitet, hat die Chance Gelassenheit zu entwickeln. Zudem kann er erkennen, dass ein Straftäter mit Migrationshintergrund nicht den Untergang des Abendlands einläutet und eine Blutwurst am Buffet der Islamkonferenz keinen Affront gegen Muslime darstellt. Philipp Hübl betont: „Ohnehin werden Kosmopoliten und gemäßigte Traditionalisten zu einem gewissen Grad immer aufeinander angewiesen sein.“

Die Traditionalisten haben diejenigen Identitäten und Kulturen ausgebildet, welche die Kosmopoliten dann in die Welt trugen. Zwar hat die Zahl der radikal Progressiven weltweit zugenommen, doch der kanadische Politikprofessor Eric Kaufmann schätzt den Anteil der Kosmopoliten weltweit auf nur acht Prozent. Der Rest der Menschheit zieht es vor, ortsgebunden beheimatet zu sein. Wären alle Menschen Kosmopoliten, würde jeder Markenturnschuhe tragen und Avocadotoast essen.

Sachfragen entwickeln sich immer mehr zu Gesinnungsfragen

Philipp Hübl stellt fest: „Vermutlich gäbe es dann die versteckten Dörfer und lokalen Bräuche gar nicht, für welche die Hipster lange Flugreisen auf sich nehmen. Wären alle Menschen Traditionalisten, gäbe es keinen Fortschritt und niemand würde vom Kulturaustausch profitieren.“ Die Konservativen wollen mehr Grenzen in allen Lebensbereichen, die Progressiven weniger. Grenzen wird es immer geben, daher muss man einen Kompromiss in der Frage finden, wie starr oder durchlässig sie sein sollen.

Konservative sehen außerdem Autorität positiver als Progressive. Philipp Hübl erläutert: „Auch Autorität wird es immer geben, denn sobald sich Menschen spezialisieren, entsteht Expertentum und damit eine soziale Hierarchie. Wie sehr Hierarchien unser Leben bestimmen sollen – auch das müssen wir aushandeln.“ Wenn man seine Neigung zum Tribalismus nicht so weit wie möglich unterdrückt, entwickeln sich durch die neue Polarisierung in Zukunft noch mehr Sachfragen zu Gesinnungsfragen. Besonders deutlich sieht man das am Problem des menschengemachten Klimawandels. Quelle: „Die aufgeregte Gesellschaft“ von Philipp Hübl

Von Hans Klumbies