Nur die Unvernünftigen dulden keinen Widerspruch

Das Recht ist eine Sphäre von vernünftigen Auffassungsunterschieden. Alexander Somek erklärt: „In gewissem Umfang ist es kein Anzeichen von Unvernunft, wenn man inhaltlich nicht akzeptiert, was für uns gelten soll. Es bedeutet sogar umgekehrt, dass die Anerkennung von Dissens die Vernunft indiziert. Vernünftige Leute verstehen, warum wir nicht übereinstimmen.“ Sie verstehen, dass die Dinge mehr als eine Seite haben und dass unterschiedliche Leute den einen oder anderen Aspekt entgegengesetzt bewerten. Nur die Unvernünftigen wollen einer Meinung sein und dulden keinen Widerspruch. Die Unvernünftigen bestehen auf Übereinstimmung. Sie sehen nicht, dass der Dissens die Brücke zur Vernunft ist. Was die einen anordnen, weil sie es für richtig halten, stellt für die anderen einen Eingriff in ihre Freiheit dar. Alexander Somek ist seit 2015 Professor für Rechtsphilosophie und juristische Methodenlehre an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.

Manchmal lässt man freiwillig Fremdbestimmung zu

In Frage steht dann nicht mehr, ob eine Maßnahme gut oder schlecht ist, sondern ob der Eingriff gerechtfertigt ist. Auch dies ist eine ernste Sache; in der Sache ist es dies allerdings nicht mehr. Die Frage ist mit Blick darauf ernst, wie weit jemandes Macht gehen darf, anderen etwas anzuschaffen. In diesem Zusammenhang ist zu beurteilen, wie weit oder wie eng der Beurteilungsspielraum dessen sein darf, der anschafft. Wenn ein Beurteilungsspielraum zugestanden wird, werden Meinungsverschiedenheiten nicht mehr in der Sache gelöst, sondern vielmehr Entscheidungskompetenzen festgelegt.

Über deren Umfang kann man ebenfalls unterschiedlicher Meinung sein. Aber ohne Zweifel erweitert sich damit die praktische Vernunft gleichsam von innen, indem sie sich angesichts ihrer sachlichen Grenzen praktisch in der Form von Entscheidungen realisiert. Alexander Somek weiß: „Kompetenzen und Eingriffsgrenzen stipulieren die Bedingungen für die freiwillig zugelassene Fremdbestimmung. Das sind aber nicht die einzigen Bedingungen. Zu ihnen gehört auch die Legalität. Sie gehört in einem doppelten Verstande dazu.“

Man muss einer Regel nicht aus „innerer Überzeugung“ folgen

Erstens muss man einer Regel, mit der man inhaltlich nicht übereinstimmen muss, auch nicht aus „innerer Überzeugung“ folgen. Man muss sich nicht ausmalen, was die Befehlenden gedacht haben könnten oder für einen Verstoß halten würden, und sich somit in ihre Perspektive hineinversetzen. Andernfalls würde die Befolgung voraussetzen, sich mit den Befehlenden in gewisser Weise zu identifizieren. Damit würde der Zugewinn an praktischer Vernunft, der in der Legalität liegt, wieder verspielt.

Zweitens muss aus der Sicht der Legalität eine Regel so beschaffen sein, dass ihre Anwendung vorhersehbar bleibt. Alexander Somek stellt fest: „Sexuell belästigt zu werden ist für eine betroffene Person sehr unangenehm und alles andere als ein Spaß. Aus moralischer Sicht ist es daher verständlich, dass das Recht Anstrengungen unternimmt, das entsprechende Verhalten zu unterbinden.“ So gut wie alles, was in der Welt ist, ist von Libido besetzbar. Aufblasbare Love Dolls stellen bloß den halbwegs nachvollziehbaren Anfang dar. Quelle: „Moral als Bosheit“ von Alexander Somek

Von Hans Klumbies