Das Engagement, das Erziehung und Schule in den Familien der akademischen Mittelklasse seit den 1990er Jahren beansprucht, ist immens. Andreas Reckwitz erläutert: „Der alltägliche Umgang mit den Kindern, ihre Förderung und Begleitung ihrer Schullaufbahn erreichen eine ausgeprägte Intensität.“ Erziehung und Schule sind der Ort, an dem sich die beiden wichtigsten Motive der Lebensführung der Akademikerklasse, aufs Engste miteinander verbinden. Nämlich ihr Wunsch nach Selbstentfaltung und das Streben nach sozialem Prestige. In der industriellen Moderne stellte die Schule ein herausragendes gesellschaftliches Feld der formalen Rationalisierung und Standardisierung dar. Die soziale Logik des Allgemeinen und des Gleichen war prägend. Die Massenbildung ist eine „industrielle“ Bildung gewesen und ist es nach wie vor. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.
Es gibt keinen spätmodernen Lebensstil
Idealerweise lernen hier alle Schüler das Gleiche in gleichem Rhythmus und auf gleiche Weise. Die Ideale der Allgemeinbildung in einer Gesellschaft der Gleichen und der standardisierten Beschulung gehen hier Hand in Hand. Andreas Reckwitz stellt fest: „Der Wandel der Erziehungsstile in den Familien folgt historisch zwar seinem eigenen Pfad. Dieser ist nicht mit jenem der Institution „Schule“ identisch.“ Es spricht aber einiges für die Annahme, dass in der Phase der nivellierten Mittelstandsgesellschaft der herrschende Erziehungsstil mit dem Gleichheitsideal der standardisierten Schule übereinstimmte.
Seit den 1980er Jahren erleben Erziehung und Bildung einen vielschichtigen sozialen Wandel. Dieser ist jedoch nicht leicht auf einen Nenner zu bringen. Andreas Reckwitz erklärt: „Einmal mehr macht es hier wenig Sinn, von einer unilinearen Transformation der Erziehung oder der Schule zu sprechen, genauso wenig wie es den spätmodernen Lebensstil gibt. Solche Durchschnittsbegriffe mochten für die nivellierte Mittelstandsgesellschaft taugen, sie verlieren jedoch in einer Gesellschaft, die von Klassendifferenzen geprägt ist, weitgehend ihren Sinn.
Besonders akademische Familien sind extrem kindzentriert
Tatsächlich bilden Erziehung und Schulbildung einen der wichtigsten und aussagekräftigsten Bereiche, in denen sich die sozialstrukturelle und kulturelle Polarisierung der Spätmoderne manifestiert. Die akademische Mittelklasse intensiviert und verfeinert ihre Erziehungs- und Bildungsbemühungen. Auf der anderen Seite stehen die „Bildungsverlierer“ und die „Problemschulen“. In diesen konzentriert sich die neue Unterklasse. Seit den 1980er Jahren hat sich in der neuen Mittelklasse ein anspruchsvoller Erziehungsstil herauskristallisiert. Diesen kann man als „intensive Elternschaft“ beschreiben.
Andreas Reckwitz weiß: „Trotz häufiger Doppelerwerbstätigkeit der Eltern sind die Familien in historisch einmaligem Umfang kindzentriert. Das einzelne Kind, so die Vorstellung, ist von Geburt an in seiner Besonderheit bestmöglich zu fördern.“ Über die Förderung der emotionalen, sozialen, sprachlichen und kognitiv-argumentativen Kompetenzen hinaus erhalten die Kinder in den akademischen Familien eine Vielzahl diverser Anregungen. Man liest dem Kind vor, geht mit ihm ins Museum, bringt es spielerisch mit Kunst, Musik, Fremdsprachen und Natur in Berührung und sorgt für „passenden“ sozialen Austausch. Quelle: „Die Gesellschaft der Singularitäten“ von Andreas Reckwitz
Von Hans Klumbies