Die junge Generation kann mit Mehrdeutigkeit leben

Konservative Menschen hegen einen Wunsch nach Struktur und Klarheit und sie wollen deutlich zwischen Gut und Böse unterscheiden. Die junge Generation hingegen kann nicht nur besser als ihre Eltern und Großeltern mit Fremdheit, Mehrdeutigkeit und Vagheit leben. Sie findet das sogar ästhetisch ansprechend. Philipp Hübl weiß: „Daher sind Komplexität und Ambivalenz ein neues und dominierendes Merkmal der Unterhaltungsindustrie.“ Die großen Narrative der Gegenwart, also Fernsehserien und Computerspiele, die besonders bei jungen Menschen beliebt sind, setzen weder auf eindeutige Rollenverteilungen noch auf eine abgeschlossene Handlungsführung. Selbst der von Daniel Craig gespielte James Bond ist nicht mehr der unbesiegbare Gentleman-Spion. Sondern er ist ein traumatisierter Alkoholiker und, trotz maskuliner Statur, verletzlicher Mann. Philipp Hübl ist Philosoph und Autor des Bestsellers „Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie“ (2012).

Unterhaltung hat nichts mit Kunst zu tun

Die neuen Hauptfiguren sind nicht mehr klassische Helden, sondern sie verlangen von den Zuschauern, sich mit moralischer oder existenzieller Ambivalenz auseinanderzusetzen. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno haben 1944 in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ kritisiert, die Kulturindustrie bestünde bloß im Geschäft der Unterhaltung ohne auch nur vorzugeben, Kunst zu sein. Vielmehr käme es der Massenkultur aus Kino und Rundfunk lediglich auf die handwerklich perfekten Effekte an.

Sie fordere keine „denkende Aktivität“, sondern sei dem bloßen Vergnügen verpflichtet und würde die Zuschauer mit der Ideologie des Kapitalismus indoktrinieren, um sie gefügig zu machen. Während die Geschichten und Genres der Massenkultur klar kategorisierbar seien, würde echte Kunst ästhetische Erfüllung immer als „gebrochen darstellen“. Philipp Hübl stellt fest: „Ob diese Analyse den Filmen und Radiobeiträgen Mitte des letzten Jahrhunderts gerecht wird, sei einmal dahingestellt. Auf die heutige Unterhaltungsindustrie jedenfalls trifft sie nicht zu.“

Die Popkultur erzieht Menschen weltweit zur Offenheit

So sind Komplexität und Anspruch gewiss keine Unterscheidungsmerkmale mehr. Brechung und unerfüllte Erwartungen hingegen sind inzwischen Charakteristika fast aller Narrative, auch der der Unterhaltungsindustrie. Filme, Serien, Comics und Computerspiele haben zur Hochliteratur aufgeschlossen. Denn auch sie sind inzwischen mehrdeutig, komplex, verstörend und lassen Rezipienten nachdenklich zurück. In der Avantgardekunst haben Komplexität und Provokation eine lange Tradition. Seit den Zwanzigerjahren ist besonders die bildende Kunst oft überraschend und stellte Autorität, Loyalität und Reinheit infrage.

Neu ist, dass auch die Popkultur Menschen weltweit zur Offenheit erzieht, und zwar mit Geschichten, deren moralische Ambivalenz man zu ertragen lernt. Philipp Hübl erläutert: „In ihnen spielen Mitglieder aus Minderheiten eine immer wichtigere Rolle, deren individuelle Perspektive die Zuschauer übernehmen und dadurch besser verstehen können. Mit den neuen Narrativen treiben also auch die Kulturschaffenden die progressive Revolution voran.“ Quelle: „Die aufgeregte Gesellschaft“ von Philipp Hübl

Von Hans Klumbies

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