Menschen haben verschiedene Identitäten

Es ist keine neue Erkenntnis, dass die Menschen verschiedene Identitäten haben können und tatsächlich auch haben. Diese sind an verschiedene wichtige Gruppen geknüpft, denen sie gleichzeitig angehören. Amartya Sen fügt hinzu: „Im normalen Leben sehen wir uns als Mitglieder einer Vielzahl von Gruppen, denen wir allen angehören.“ Jedes dieser Kollektive, denen allen der Betreffende angehört, verleiht ihm eine potentielle Identität, die je nach Kontext sehr wichtig sein kann. Die Darstellung Indien in Samuel P. Huntigtons Buch „Der Kampf der Kulturen“ als einer hinduistischen Kultur ist für Amartya Sen ein grober Fehler. Grobheit der einen oder anderen Art findet man dort auch in der Charakterisierung anderer Kulturen. Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.

Samuel P. Huntigton glaubt an den „Kampf der Kulturen“

Dies erkennt man schnell, wenn man die sogenannte „westliche Kultur“ betrachtet. Die Verfechter des „Kampfes der Kulturen“ neigen zu der Ansicht, Toleranz sei ein spezifisches und dauerhaftes Merkmal der westlichen Kultur, das weit in die Vergangenheit zurückreicht. Sie gilt sogar als eine der zentralen Aspekte des Wertekonflikts, der dem angeblichen Kampf der Kulturen zugrunde liegt. Samuel P. Huntigton behauptet, der Westen sei der Westen gewesen, lange bevor er modern war.

Er nennt in diesem Zusammenhang „ein Individualitätsgefühl und eine Tradition individueller Rechte und Freiheiten“, wie sie unter allen zivilisierten Gesellschaften nur im Westen gebe. Diese immer häufiger anzutreffende Ansicht über die Unterschiede zwischen den Kulturen ist keineswegs so tief in der hergebrachten westlichen Analyse der Kulturen verwurzelt, wie zuweilen angenommen wird. So ließ die Darstellung der westlichen Kultur inmitten anderer, sehr verschiedener Kulturen, ausdrücklich Raum für Ungleichartiges innerhalb der einzelnen Kulturen.

Toleranz und Freiheit gehören zum modernen Europa

Nachzulesen ist das zum Beispiel in Oswald Spenglers sehr einflussreichen Buch „Der Untergang des Abendlandes“. Oswald Spengler sagt sogar: „Sokrates, Epikur und vor allem Diogenes am Ganges – das wäre sehr wohl vorzustellen. Diogenes in eine der westeuropäischen Weltstädte wäre ein bedeutungsloser Narr.“ Amartya Sen betont: „Samuel P. Huntingtons These lässt sich empirisch in der Tat kaum untermauern.“ Toleranz und Freiheit gehören sicherlich zu den wichtigen Errungenschaften des modernen Europas.

Es ist jedoch einigermaßen bizarr, hier eine über Jahrtausende zurückreichende historische Scheidelinie zu sehen. Denn in keiner Kultur der Welt ist der Kampf für politische Freiheit und religiöse Toleranz ein altes historisches Phänomen. Amartya Sen stellt fest: „Platon und Thomas von Aquin waren in ihrem Denken nicht minder autoritär als Konfuzius.“ Damit soll jedoch nicht bestritten werden, dass es im klassischen europäischen Denken Vorkämpfer der Toleranz gegeben hat. Aber selbst, wenn diese zugunsten der gesamten westlichen Welt ausgelegt wird, so gibt es doch ähnliche Beispiele auch in anderen Kulturen. Quelle: „Die Identitätsfalle“ von Amartya Sen

Von Hans Klumbies