Der australische Naturphilosoph Glenn Albrecht hat 2005 den Begriff der „Solastalgie“ geschaffen, um das Trauma zu beschreiben, das durch den Verlust der vertrauten ökologischen Umwelt entsteht. Eva von Redecker ergänzt: „Nostalgie, aber in Echtzeit: eine Sehnsucht nicht nach Vergangenem, sondern nach dem, was man für unverrückbar gegenwärtig hielt.“ Das Wort, das sich aus dem lateinischen „solacium“ – Trost – und dem griechischen „algia“ – Leid – zusammengebaut ist, kommt einem nicht gerade leicht über die Lippen. „Leiden an Trostlosigkeit“: Das beschreibt nicht schlecht, was Menschen in einer sterbenden Welt befällt. Aber der Neologismus macht Eva von Redecker stutzig, weil in ihm so viel fehlt. Es kommt weder die Welt vor, auf die sich die Sehnsucht richtet, noch der Grund ihres Verlusts. Eva von Redecker ist Philosophin und freie Autorin. Sie beschäftigt sich mit der Kritischen Theorie, Feminismus und Kapitalismuskritik.
Das Massenaussterben ist naturwissenschaftlich belegte Realität
Die Welt stirbt schließlich nicht von allein. Solastalgie benennt keine Schuldigen, nicht mal Ursachen. Eva von Redecker glaubt: „Vielleicht wäre „Weltschmerz“ eine bessere Kategorie als Solastalgie, weil damit immerhin betont würde, dass es um einen Gesamtzusammenhang geht und nicht um einen einzelnen Ort, den man immer noch den Rücken kehren kann.“ Das, was bei normalen Trauma innerpsychische Zwangsvorstellung ist – dass es immer wieder so sein wird –, hat beim Massenaussterben naturwissenschaftlich belegte Realität.
Eva von Redecker kritisiert: „Angesichts dieser Realität ist auch der Anklang von „Solastalgie“ an „Nostalgie“ skandalös. Man meint fast schon mitzuhören, dass es für die bessergestellten Schichten in den bessergestellten Ländern bald ein paar Regierungsprogramme zur Solastalgie-Kur gibt, Forschung zu Resilienzfaktoren bezuschusst wird – und ansonsten kann man immer noch sagen, dass solche Sentimentalitäten wie die unersetzbare Ortsbindung überwunden gehören.“
In der Natur läuft die Zeit zyklisch ab
Die Moderne hat den Menschen schließlich keinen Trost versprochen, sondern Freiheit. Aber war es die ganze Freiheit? Fehlt ihr nicht etwas sehr Entscheidendes? Hängt die Freiheit nicht vom Fortbestand der lebendigen Welt ab? Besteht sie nicht geradezu darin? Eva von Redecker stellt fest: „Um die Freiheit mit dem Leben zu verknüpfen, muss man sie zeitlich denken. Das wiederum wirft die Frage auf, was wir unter „Zeit“ verstehen. Der Moment des Bleibens erschien mir befreiend, weil er mir unverhofft Zeit verschaffte.“
Vielleicht ist ein Ort nichts anderes als das: der Knotenpunkt etlicher zeitlicher Kreisläufe. Eva von Redecker nennt Beispiele: „Nicht nur die Mauer, sondern die Frühlingssonnenstrahlen darauf und die blühenden Birnbäume davor. All das ist Zeit. Nicht meine, aber mir entgegenkommende.“ Jahreszeitliche Migrationszyklen der Zugvögel, tageszeitliche Sonnenstände, Vegetationsperioden. Wo es nicht um die einmalige Spanne einer individuellen Lebenszeit geht, sondern um Natur, kann man diese Zeit als zyklisch beschreiben. Quelle: „Bleibefreiheit“ von Eva von Redecker
Von Hans Klumbies