Der amerikanische Psychologe Jonathan Haidt und andere Forscher neigen zu einem Relativismus, der zugespitzt lautet: Jede Kultur hat ihre eigene Moral. Philipp Hübl erläutert: „Wenn die Moral den Gefühlen gehorchen muss, kanns sie als Sklavin der Leidenschaften schwerlich universell sein.“ Im Westen ist moralischer Relativismus heute oft aus Minderheitenschutz heraus, also aus Fürsorge und Fairness motiviert. Denn es besteht die Angst, in der Moral kolonialistisch oder „ethnozentrisch“ zu verfahren. Doch universelle moralische Prinzipien sind nicht „westlich“, nur weil einige von ihnen zuerst im Westen formuliert wurden. Genauso wenig ist das Prinzip des gewaltlosen Widerstands gegen Unterdrücker „indisch“, nur weil es Mahatma Gandhi als Erster erfolgreich gegen die britischen Besatzer eingesetzt hat. Philipp Hübl ist Philosoph und Autor des Bestsellers „Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie“ (2012).
Gedanken haben Einfluss auf die Moral
Der kulturunabhängige Charakter der Menschenrechte zeigt sich schon daran, dass sich alle Staaten der Welt auf sie verständigen konnten. Philipp Hübl stellt fest: „Als Moralpsychologe irrt sich Jonathan Haidt also über die Natur des Menschen und als moralischer Relativist irrt er sich über die Natur der Moral.“ Zum einen übersieht er die Macht der Vernunft. Hätten Gedanken keinen Einfluss auf die Moral, gäbe es keinen Fortschritt. Und die Menschen würden noch so denken und handeln wie in Urzeiten.
Die gesamte Zivilisationsgeschichte zeigt, dass Menschen die Fähigkeit und den Willen haben, sich gegen ihre Neigungen zu entscheiden. Allerdings machen sie davon nur selten Gebrauch. Zum anderen sieht Jonathan Haidt nicht, dass zwar Emotionen die Alltagsmoral bestimmen, aber gerade nicht Grundlage für eine substanzielle Ethik sein können. Diese Einsicht spiegelt sich unter anderem in der Gesetzgebung wider. Steuerbetrug zum Beispiel wird in Deutschland hart bestraft, auch wenn er unter den Bürgern nicht besonders starke Empörung hervorruft.
Die Vernunft ist nicht der Pressesprecher der Intuition
Umgekehrt kann Untreue in der Partnerschaft zu unvorstellbaren emotionalen Reaktionen führen. Obwohl er aber moralisch relativ harmlos ist und vor dem deutschen Gesetz überhaupt keine Rolle. Man kann seinen Partner nicht dafür verklagen, dass er einen betrogen hat. Philipp Hübl betont: „Wir haben gute Gründe, unsere Ethik an langfristigen Zielen und universellen Prinzipien und nicht an den Leidenschaften des Moments auszurichten.“
Jonathan Haidt behauptet, die Vernunft sei so etwas wie der Pressesprecher der Intuition. Sicherlich ist es richtig, dass Menschen manchmal für ihre spontanen Taten und Urteile nachgereichte Scheinerklärungen abgeben. Doch von diesen Fehlleistungen kann man nicht auf den Normalfall schließen. Denn in den meisten Fällen kann man für seine Entscheidungen einen Grund angeben, den man schon vor der Handlung hatte. Man hat zum Beispiel etwas gegessen, weil man Hunger hatte oder man hat eine Reise gebucht, weil man in den Urlaub fahren wollte. Quelle: „Die aufgeregte Gesellschaft“ von Philipp Hübl
Von Hans Klumbies