Der Mensch versteht sich als offenes Wesen

Was ist der Mensch? In dieser Frage laufen nach Immanuel Kant die Grundlinien der Philosophie, der Religion und der Moral zusammen. Seit der Renaissance versteht sich der Mensch als prinzipiell offenes Wesen. Nämlich nicht nur tendenziell frei gegenüber der Welt, sondern auch frei sich selbst gegenüber. Konrad Paul Liessmann stellt fest: „Friedrich Nietzsche steht, wenn auch kritisch, in dieser Tradition. Er treibt sie weiter, spitzt sie zu, entkleidet sie jedoch vom Pathos der Würde.“ Der Mensch: Das ist, wie Nietzsche sich einmal notierte, „das noch nicht festgestellte Thier“. Im „Antichrist“ resümierte Nietzche seine Position. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie an der Universität Wien. Zudem arbeitet er als Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Im Zsolnay-Verlag gibt er die Reihe „Philosophicum Lech“ heraus.

Der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung

Friedrich Nietzsche schreibt im „Antichrist“: „Wir haben umgelernt. Wir sind in allen Stücken bescheidener geworden. Wir leiten den Menschen nicht mehr vom Geist, von der Gottheit ab, wir haben ihn unter die Thiere zurückgestellt.“ Wohl gilt uns, so Nietzsche, der Mensch als das stärkste Tier, „weil er das listigste ist“. Und als eine Folge davon erscheint die „Geistigkeit“ des Menschen. Aber, so Nietzsche weiter, das ist kein Grund für Eitelkeit. Der Mensch ist nämlich „durchaus keine Krone der Schöpfung, jedes Wesen ist, neben ihm, auf einer gleichen Stufe der Vollkommenheit“.

Wie kaum einer vor ihm unterstrich Friedrich Nietzsche mit seinen Gedanken die Kontingenz und die Bedeutungslosigkeit des menschlichen Daseins. Diese traf nicht zuletzt dessen gerühmte Geistigkeit. In der Natur nimmt sich der menschliche Intellekt „kläglich“, „schattenhaft und flüchtig“, „zwecklos und beliebig“ aus. „Es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben“. Und dennoch: Der Mensch ist das noch nicht festgestellte Tier.

Freiheit ist das Symptom einer Krankheit

Laut Konrad Paul Liessmann liegt bei Nietzsche auch ein Akzent auf dem „noch“. Vielleicht ruft das „Oh Mensch!“ genau dieses Noch in Erinnerung. Spätere Anthropologien wie die von Max Scheler und Helmuth Plessner haben die Weltoffenheit des Menschen, seine exzentrische Position der Natur gegenüber behauptet. Zwar haben diese Offenheit und Plastizität – pathetisch: seine Freiheit – dem Menschen nach Nietzsche durchaus „seinen Sieg“ im Kampf mit den Tieren ermöglicht.

Zugleich aber erweist sich gerade darin die „schwierige und gefährliche krankhafte Entwicklung des Menschen“. Man muss sich das vor Augen halten: Oh Mensch, vergiss nicht, dass deine Freiheit Symptom einer Krankheit ist! Ein halbes Jahrhundert nach Friedrich Nietzsche wird der Philosoph Günther Anders konsequent von der „Pathologie der Freiheit“ sprechen, die den Menschen charakterisiert. Denn es gibt – und das ist vorerst einmal die Erfahrung eines Mangels – keine Natur und kein unabänderliches Wesen des Menschen. Quelle: „Alle Lust will Ewigkeit“ von Konrad Paul Liessmann

Von Hans Klumbies