Ungefähr ab einem Alter von 50 – eigentlich beginnt es schon im dritten Lebensjahrzehnt – spaltet sich die Menschheit in zwei Charaktertypen, man könnte fast sagen: zwei grundverschiedene Spezies. Matthias Horx erläutert: „Der größte Teil – in schlechten Tagen hat man das Gefühl, es sind 80 Prozent – wird vom Virus schleichender Bitterkeit befallen. Diese Krankheit macht sich äußerlich bemerkbar durch den Tonfall der Klage. Das Jammern und Beschweren. Das Schlechtmachen und ständige Kritisieren. Das Awfulizing.“ Awfulizing, vom englischen „awful“, schlecht, unmöglich, gemein, ist ein Begriff, den man in der Trendforschung zur Illustration eines weit verbreiteten Zeitgefühls benutzt. Awfulizer erkennt man daran, dass sie jeden Satz mit dem Wort „Problem“ beginnen. Dass sie die Umwelt nur noch durch die Brille von Verlusten und Bedrohungen sehen. Matthias Horx ist der profilierteste Zukunftsdenker im deutschsprachigen Raum.
Gerücht
Viele Menschen sind von der Sünde fasziniert
Viele Menschen begehen unentwegt kleine moralische Verfehlungen, die Ausdruck einer tief verwurzelten Selbstgefälligkeit ist. Die Neigung zu verwerflicher Leidenschaft, zur Sünde steht im Zentrum der menschlichen Persönlichkeit. Die Menschen sündigen nicht nur, sie sind auch in absonderlicher Weise von der Sünde fasziniert. David Brook nennt ein Beispiel: „Wenn wir hören, dass ein Prominenter in einen empörenden Skandal verwickelt ist, sind wir irgendwie enttäuscht, wenn sich herausstellt, dass das Gerücht falsch ist.“ Und wenn man brave Kinder sich selbst überlässt, dauert es meist nicht lange, bis sie für Scherereien sorgen. Selbst an sich positive zwischen menschliche Verbindungen wie Kameradschaft und Freundschaft können verfälscht werden, wenn sie nicht an ein höheres Ziel gebunden sind. David Brooks arbeitet als Kommentator und Kolumnist bei der New York Times. Sein Buch „Das soziale Tier“ (2012) wurde ein internationaler Bestseller.
Die Literatur war einst die Kompensation für zu wenig Leben
Der Lesende ist eine eigentümliche Erscheinung: Er ist da und doch nicht da. Er befindet sich, obwohl leiblich anwesend, in einer anderen Welt. Konrad Paul Liessmann erklärt: „Die durch Buchstaben hervorgerufene Welt im Kopf gleicht keiner anderen Welt: weder der Erfahrungswirklichkeit noch der von Bildern, noch einer durch Digitalrechnung erzeugten virtuellen Welt.“ Es ist die Kraft des Visionären, die dem Leser einen universellen Weltbezug erlaubt: Welt ist dort, wo der Leser ein Buch aufschlägt. Das machte in früheren Zeiten das Lesen und das Schreiben zum bevorzugten Medium der Menschen an Randlagen. Die Literatur war damals das eigentliche Medium der Provinz – in jeder Hinsicht. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.
Kurt Tucholsky starb am 21. Dezember 1935 (11. Teil)
Seit 1921 hat Kurt Tucholsky immer wieder mit dem Gedanken an Tod und Selbstmord gespielt, seit 1932 häuften sich diesbezügliche Briefstellen und Buchwidmungen. Als er in der Nacht des 21. Dezember 1935 im Sahlgrenschen Krankenhaus in Göteborg starb, deutete denn auch alles auf einen Suizid hin. Seither ist aber auch das Gerücht nie ganz verstummt, Kurt Tucholsky sei von den Nazis ermordet worden. Für beiden Thesen gibt es allerdings keine haltbaren Beweise. Für Selbstmord sprechen allerdings ein früherer Suizidversuch und seine wiederholten Klagen, dass alles keinen Sinn habe. Die Möglichkeit eines „Selbstmords aus Versehen“, ein in der medizinischen Literatur seit vielen Jahren unter dem Namen „Tablettenautomatismus“ bekanntes Phänomen, wurde bislang nicht in Betracht gezogen, obwohl dadurch viele der offenen Fragen zu erklären wären.
Führungspersonen müssen heutzutage fast ideale Menschen sein
Herausragende Führungspersönlichkeiten hatten schon immer ihre moralischen Schattenseiten. Eine Abstimmung, die von der BBC initiiert worden war, hat zum Beispiel Winston Churchill, der die Demokratie und Zivilisation während des Zweiten Weltkriegs in Europa gerettet hat, zum bedeutendsten Briten aller Zeiten erkoren. Obwohl allgemein bekannt ist, dass er ein starker Whiskytrinker war, sehr spät aufstand und seinen Urlaub gerne auf der Yacht des griechischen Milliardärs Aristoteles Onassis verbrachte. Nicht nur große Staatsmänner, sondern auch bedeutende Unternehmer und Manager, die große Leistungen vollbracht und den Wohlstand der Gesellschaft wesentlich gemehrt haben, führten nicht unbedingt ein vorbildliches Privatleben. Und wenn man an Künstler denkt, erweist sich der heutzutage praktizierte rigorose Moralismus endgültig als unbrauchbar und wird für diese Kreativen auch nicht angewendet.
Die Kunst von Tino Sehgal existiert nur für den Augenblick
Der Berliner Künstler Tino Sehgal schafft keine Werke sonder Kunstsituationen, die von Geheimnissen umwittert sind. Inzwischen ist er so berühmt, dass er im Londoner Museum Tate Modern mit seiner Auffassung von Kunst auftreten darf. Momentan ist seine neueste Arbeit in der Turbinenhalle, einer der größten geschlossenen Kunsträume der Welt zu bestaunen. Vom Eingang führt eine Betonrampe zu den höheren Stockwerken hinauf. Auf dem Weg nach oben werden die Museumsbesucher von Menschen angesprochen, die leise reden, Geschichten erzählen, niemanden berühren und zum nächsten Gesprächspartner davoneilen. Das ist das neueste flüchtige Kunstwerk von Tino Sehgal, es heißt „These Associations“ und ist bis Oktober in der Turbinenhalle zu sehen und zu hören. Der 36-Jährige Künstler und Weltbürger ist inzwischen auf dem besten Weg zum Weltruhm.
Die Essays von Francis Bacon funkeln vor Brillanz
Das Buch „Essays“ von Francis Bacon enthält 58 Abhandlungen, sprich Essays und ein Fragment einer Abhandlung, in der er über die Gerüchte philosophiert. Die Essays handeln unter anderem von der Schönheit, vom Glück, vom Ehrgeiz, vom Reichtum, von der Wahrheit, vom Tod, von der Liebe und der Freundschaft. Francis Bacon beantwortet in seinen Abhandlungen zum Beispiel die Fragen: „Warum haben unverheiratete Männer einen größeren gesellschaftlichen Nutzen als verheiratete?, Welche Vorteile bieten Verstellung und Heuchelei? und „Warum faszinieren uns Liebe und Neid mehr als alle anderen Empfindungen.“ Nicht nur diese Fragen, sondern viele der anderen die er auch in seinen Essays stellt, sind knapp 400 Jahre nach dem Tod von Francis Bacon immer noch hochaktuell.
Richard David Precht denkt über die Intelligenz nach
Der Bestsellerautor und Philosoph Richard David Precht erklärt, was die menschliche Intelligenz von der eines klugen Tieres unterscheidet. Er sagt: „Die Reflexionen, zu denen Menschen in der Lage sind, erreichen ein Niveau, das es im Tierreich nicht annähernd gibt.“ Bei den Tieren gibt es seiner Meinung nach zwar Ansätze zur Moralfähigkeit, zu Lug und Trug und List und Taktik, aber es gibt keine Tiere, die eine Rechtssprechung entwickelt haben oder ethische Maxime aufstellen können. Die Möglichkeit, sich zu sich selbst in ein Verhältnis zu setzen ist mit der Sprache und der Fähigkeit zur Abstraktion verbunden. Der Mensch kann über Dinge sprechen, die es nicht gibt, während ein Tier niemals die Zukunft in Worten vorwegnehmen kann.