Deutschland war einst eine „Kulturnation“

Thea Dorn beschäftigt das gemeinsame Erbe der „Reue“, das der Nationalsozialismus und der Holocaust den Deutschen hinterlassen haben. Sie geht der Frage nach, worin das gemeinsame Erbe des „Ruhms“ für die Deutschen liegen könnte. Herfried Münkler hat sich in seinem Buch „Die Deutschen und ihre Mythen“ ausführlich mit dem schwierigen Thema befasst. Bei sämtlichen Mythen kommt er zu dem Ergebnis, dass sie für Zwecke der heutigen deutschen Selbstverständigung nicht mehr zu brauchen sind. Der aus Thea Dorns Sicht wichtigste und fruchtbarste Mythos der deutschen Geschichte war der, eine „Kulturnation“ zu sein. Unter Kultur versteht sie sie in engem Sinne das Musische, das Geistige und das Künstlerische. Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

Die Nazis haben die deutsche Kultur vernichtet

Dieser Mythos hat es ermöglicht, dass das verschlafene Nest Weimar im 18. Jahrhundert zum geistigen Zentrum Deutschlands aufsteigen konnte. Der Mythos „Kulturnation“ hat Deutschland seine einzigartige Landschaft von Opern- und Theaterhäusern beschert. Er hat den politisch zerfransten Deutschen ideellen und seelischen Halt geboten. Er hat Bayern und Hanseaten, Katholiken, Protestanten und Juden, Alteingesessene und Neuankömmlinge, Bildungsbürger und Kleinbürger vereint. Leider ist er jedoch im frühen 20. Jahrhundert dazu missbraucht worden, den deutschen Krieg gegen Frankreich und England zu rechtfertigen.

Die Nazis haben ihn auf doppelte Weise barbarisiert, indem sie die klügsten und besten Repräsentanten der deutschen Kultur fast ausnahmslos vertrieben. Er hat aber auch einem Thomas Mann im amerikanischen Exil erlaubt, den stolzen Satz zu sagen: „Wo ich bin, ist Deutschland.“ Zudem war er einer der Gründe, dass ein musikalischer Feingeist wie Theodor W. Adorno nach 1945 in seine Heimat zurückgekehrt ist. Der deutsche Mythos, eine Kulturnation zu sein, ist älter als der deutsche Nationalstaat. Und am wirksamsten ist er in der Tat gewesen, solange Letzterer noch nicht bestand.

Kulturen können auch Verbindendes hervorbringen

In einer ihrer Xenien seufzten Friedrich Schiller und/oder Johann Wolfgang von Goethe anno 1796: „Deutschland? Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden. Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf.“ Den fatalen Fehler, Kunst gegen Demokratie, Kultur gegen Zivilisation auszuspielen, dürfen die Deutschen nie wieder begehen. Dennoch möchte Thea Dorn Martin Walser aufs Heftigste widersprechen, wenn er die Kulturnation als „Abfindungsform“ beiseitewischt.

Ein leidenschaftliches Bekenntnis dazu, auch eine Kulturnation zu sein, hätte nach 1990 massiv helfen können, die deutsche Teilung wirklich zu überwinden. Die größten Bedenken dagegen, eine Kulturnation derart zu betonen, rühren aus der Befürchtung, dass dies eine andere deutschen Spaltung weiter verschärfen würde. Nämlich die zwischen alteingesessenen Deutschen und zugewanderten Deutschen. Thea Dorn hat Norbert Elias zitiert, der auf das Trennende von Kulturen hingewiesen hat. Aber muss das immer so sein? Quelle: „deutsch, nicht dumpf“ von Thea Dorn

Von Hans Klumbies