In Deutschland ist das 20. Jahrhundert von zwei Weltkriegen, einer gescheiterten Demokratie, der Hitler-Diktatur und dem Holocaust geprägt. Und vierzig Jahre war Deutschland ein geteiltes Land. Wer dagegen heute von Deutschland spricht, denkt unter anderem an den Sozialstaat, Wohlstand, Liberalisierung, Globalisierung, eine erfolgreiche Demokratie und die längste Friedensperiode in der europäischen Geschichte. Das Projekt Europa ist für Deutschland der einzige gangbare Weg der Gegenwart, aber die deutsche Geschichte bleibt dennoch im Nationalen verwurzelt. Ulrich Herbert erklärt, warum das so ist. Das hat seinen guten Grund, denn persönliche Erfahrungen und gesellschaftliche Traditionen beziehen sich in allen europäischen Ländern, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, nach wie vor zuerst auf das Land, aus dem man kommt und in dem man lebt. Ulrich Herbert zählt zu den renommiertesten Zeithistorikern der Gegenwart. Er lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.
Ohne die nationalstaatliche Perspektive ist Europa nicht entzifferbar
Um die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu verstehen, reicht der nationale Rahmen allerdings nicht aus, da sich wichtige Entwicklungen nicht als national spezifische, sondern als gesamteuropäische Phänomene erweisen. Und doch dominiert laut Ulrich Herbert in Europa nach wie vor eine Sichtweise, die den Nationalstaat als den vermeintlich natürlichen Aggregatzustand der historischen Entwicklung begreift. Nicht weniger problematisch ist es für den Autor, Europa im 20. Jahrhundert a priori als Einheit zu betrachten.
Für Ulrich Herbert sind das 19. und das 20. Jahrhundert in Europa ohne die nationalstaatliche Perspektive nicht entzifferbar. Um die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu erzählen, ist es seiner Meinung nach auch erforderlich, die tiefgreifende Veränderungsdynamik der Jahrzehnte zwischen 1890 und 1914 zu berücksichtigen, die jahrzehntelang nachgewirkt hat und in kürzester Zeit eine solche Wucht entfaltete, dass alle europäischen Gesellschaften davon ergriffen und gezwungen wurden, auf diese Herausforderungen zu reagieren.
Deutschland verwandelt sich in eine westlich liberale Gesellschaft
Ulrich Herbert teilt die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts in zwei Epochen ein, die unterschiedlicher nicht sein könnten: „Die erste Hälfte war von Kriegen und Katastrophen gekennzeichnet, wie sie die Welt nie zuvor gesehen hatte. In ihrem Mittelpunkt stand Deutschland, mit dessen Namen seither die furchtbarsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte verbunden sind.“ Die zweite Hälfte bescherte Deutschland politische Stabilität, dazu Freiheit und Wohlstand, wie sie nach 1945 nicht einmal vorstellbar schienen.
Eine der bemerkenswertesten Entwicklungen im 20. Jahrhundert in Deutschland ist die langsame Verwandlung von einer nationalsozialistisch geprägten in eine zunehmend westlich liberale Gesellschaft. Ulrich Herbert hat sein Buch in fünf Teile gegliedert, mit Einschnitten in den Jahren 1918, 1933, 1942, 1973 und 1990. In diesen Teilen sind jeweils Querschnittskapitel eingefügt, die einzelne Jahre oder Zeitabschnitte genauer und jenseits der politischen Abläufe in den Blick nehmen, das trifft hier auf die Jahre 1900, 1926, 1942, 1965 und 1989/90 zu.
Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert
Ulrich Herbert
Verlag: C. H. Beck
Gebundene Ausgabe: 1456 Seiten, Auflage: 2014
ISBN: 978-3-406-66051-1, 39,95 Euro
Von Hans Klumbies