Julian Nida-Rümelin plädiert für ein eigenständiges Denken

„Cancel Culture“ ist ein Reizwort, das die Gesellschaft spaltet. Die einen praktizieren Cancel Culture und weisen entrüstet zurück, dass es sich dabei um eine Form der Zensur handelt. Schließlich könnten nur Staaten Zensur ausüben. Die anderen sehen in der Cancel Culture eine große Gefahr für die Demokratie und verteidigen das freie Wort gegen die „Sprachpolizei“ des linksliberalen Mainstreams. Julian Nida-Rümelin unterzieht dieses Phänomen in seinem Buch „>>Cancel Culture<< - Ende der Aufklärung?“ einer tiefschürfenden Analyse. Tatsächlich ist die Praxis, unliebsame Meinungen zum Schweigen zu bringen, uralt. Julian Nida-Rümelin weiß: „Sie prägt in unterschiedlichen Formen das politische und gesellschaftliche Leben in den meisten Kulturen zu fast allen Zeiten.“ Wenn man sich gegen diese Praxis der Verfolgung Andersdenkender wendet, verteidigt man die Demokratie als ein Projekt der Aufklärung. Julian Nida-Rümelin gehört zu den renommiertesten deutschen Philosophen und „public intellectuals“.

Der öffentliche Gebrauch der Vernunft erodiert

Die Verteidigung von Humanismus und Aufklärung gegen Intoleranz, Ignoranz, Hetze und Diskursverweigerung erst erforderlich, um die Demokratie zu bewahren und zu stärken. Julian Nida-Rümelins Buch versteht sich als ein Beitrag dazu. Die aktuell größte Gefahr für die Demokratie als Staats- und Lebensform geht nicht von linker Cancel Culture aus, sondern – zumindest in den meisten Staaten Europas – von rechtspopulistischen Kräften. Diese werden allerdings durch kulturelle und politische Fehlentwicklungen gestärkt, zu denen die sich ausbreitende Cancel Culture gehört.

Die Demokratie ist zahlreichen Bedrohungen ausgesetzt. Die Erosion der Zivilkultur und des öffentlichen Vernunftgebrauchs ist nur eine dieser Gefährdungen. Das Gegenmodell zu den Praktiken der Cancel Culture ist nicht die große Harmonie, sondern die aufklärerisch gestimmte Kritik. Denn die Kritik ist ein durchgängiges Merkmal der Aufklärung. Die Alternative zur Aufklärung ist ein Rückfall in Irrationalität und Inhumanität. Die Stärke des aufklärerischen Projekts ist zugleich ihre Schwäche. Julian Nida-Rümelin erklärt: „Im Vertrauen auf die menschliche Vernunftfähigkeit nimmt sie ihre Kritiker als Gesprächspartner ernst und bekämpft sich nicht als ihre Feinde.“

Cancel Culture bringt Menschen mit abweichender Meinung zum Schweigen

Das Buch „>>Cancel Culture<< - Ende der Aufklärung?“ von Julian Nida-Rümelin ist ein Gesprächsangebot an diejenigen, die dem Projekt der Aufklärung die Treue halten, aber auch an diejenigen, die sich davon verabschieden. Es appelliert an Vernunft, auch gegenüber ihren Verächtern. Unter Cancel Culture versteht der Autor eine kulturelle Praxis, die Menschen abweichender Meinung zum Schweigen bringt. Mit der systematischen Analyse dieses Phänomens möchte Julian Nida-Rümelin die Alternative zu allen Praktiken der Cancel Culture herausarbeiten. Nämlich eine Theorie der Urteilskraft in der Tradition von Aufklärung und Demokratie. Demokratie ist diejenige Staats- und Lebensform, die auf der kollektiven Selbstbestimmung der Freien und Gleichen beruht und politische Urteilskraft voraussetzt. Urteilskraft kann sich jedoch nur entfalten, wenn man Gründe und Gegengründe angstfrei vorbringen und abwägen kann. Alles ist dabei zulässig, was sich im Rahmen der Rechtsordnung hält. Wer glaubt, die besseren Argumente zu haben, sollte ihrer Wirkung vertrauen und nicht zu diskursiven Mitteln greifen. Die Praxis der Cancel Culture ist mit einer demokratischen Zivilkultur nicht vereinbar. >>Cancel Culture<< - Ende der Aufklärung? Ein Plädoyer für eigenständiges Denken Julian Nida-Rümelin Verlag: Piper Gebundene Ausgabe: 185 Seiten, Auflage 3: 2023 ISBN: 978-3-492-07179-6, 24,00 Euro

Von Hans Klumbies