Gefühle bestimmen heute alles

Unverhältnismäßiges Aggressionsverhalten ist nicht auf Covid-19-Leugner oder Verharmloser der Epidemie beschränkt. Richard David Precht weiß: „Es findet sich ebenso auf der Seite von Konformisten, denen die Pflichterfüllung zum unbegrenzten und rüden Missionsauftrag wird. Das Gefühl, aus legitimer Aggression zu handeln, schmiedet beide Seiten viel enger zusammen, als es ihrem Selbstverständnis entspricht.“ Es gibt viele Gründe, warum Maßhalten mit den eigenen Emotionen heute nicht mehr die gleiche Rolle spielt wie in der Antike. Und von dort bis tief ins 20. Jahrhundert hinein. Gefühle gelten heute als legitim und bestimmen alles, vom privaten Gespräch bis zur medialen Berichterstattung. Stets geht es darum, wie ein Mensch etwas fühlt. Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

Es gibt immer mehr Normen und Gebote

Richard David Precht stellt fest: „Wir leben im Zeitalter der Gefühle, und genau das bestimmt auch den für das moralische Handeln so wichtigen Kontext.“ Dabei sind Bürger in modernen Demokratien von einer Regelungs- und Verordnungsvielfalt umzingelt wie nie zuvor Menschen in der Geschichte. Je mehr sie dicht gedrängt in Städten leben, desto mehr Regeln schränken sie ein. Denn das menschliche Sozialleben in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften wird immer komplizierter. Daher gibt es immer mehr Normen, Gebote und Anweisungen.

Für einen erheblichen Teil davon sorge die unaufhaltsame Ausbreitung der halb künstlichen Intelligenz der Bürokratie. Ein weiterer Teil verdankt sich der stets wachsenden Sorge um die Gesundheut und um die Kinder. Verbote, Gebote und elterliche Sorgen zäunen das ehemals wilde Terrain ein. Es entsteht eine Melange aus Bevölkerungsdichte, immer höher technifizierter Umwelt, sozialem Konfliktpotenzial und Gesundheitsängsten. Das alles birgt ein gegenüber früheren Zeiten erhöhtes unterschwelliges Stresspotenzial.

Die Aggression wird immer unsichtbarer

Gleichzeitig ist das Quantum im Alltag zulässiger Aggressionen und „normaler“ Gewalt in den letzten Jahrzehnten stetig gesunken. Die Wahrscheinlichkeit, auf deutschen Straßen angepöbelt oder geschlagen zu werden, ist heute deutlich niedriger als je zuvor. Da parallel dazu jedoch die Erwartung daran, dass solche Gewalt nicht passiert, ständig gestiegen ist, wird dies von vielen allerdings nicht so wahrgenommen. Hervorrandes Beispiel der hier genannten Paradoxie von wachsender innerer Aggression bei Abnahme der sichtbaren Gewalt ist der Straßenverkehr.

Richard David Precht erklärt: „Die enorm erhöhte Dichte des Verkehrs mit immer größeren Autos bei gleichzeitig stark verbesserter Sicherheitstechnik mit Knautschzonen, Airbags, besseren Bremsen und Sicherheitsgurten hat die Zahl der Verkehrstoten ebenso reduziert, wie sich die zähnefletschende Aggression hinter dem Steuer drastisch erhöht hat.“ Die letzten Jahrzehnte haben somit die sichtbare Aggression in die Schutzräume versteckter Aggression vertrieben. Nämlich in Autokarossen mit Privacy-Verglasung oder in die Anonymität sozialer Netzwerke. Quelle: „Von der Pflicht“ von Richard David Precht

Von Hans Klumbies