Die Reformation verursachte einen Flächenbrand

Was große Religionskriege der Moderne betrifft, hat Europa eine beachtliche Vorreiterrolle gespielt. Jürgen Wertheimer nennt ein Beispiel: „Mit seinen vermutlich über sechs Millionen Toten ist der sogenannte Dreißigjährige Krieg eine der blutigsten und verheerendsten Katastrophen.“ Was die Zahl der Opfer betrifft, liegt der damit auf Augenhöhe mit dem Zweiten Weltkrieg. Europa war in der beginnenden Neuzeit auf dem Sprung zu einer kultivierten Wissensgesellschaft. Wie konnte es zu diesem gedanklichen und emotionalen Rückschritt kommen? Dynastische Spannungen, Auseinandersetzungen zwischen den Kontinentalmächten Frankreich, Spanien und der Insel, England, gab es im gesamten Mittelalter bis zur Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert. Doch erst mit dem Ereignis der Reformation erhielten die Konflikte jene ideologische Schärfe, die aus ihnen einen verheerenden Flächenbrand machen sollte. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

Martin Luther prangerte den Ablasshandel an

Überfällig schien diese religiöse Erneuerung aus unterschiedlichen Gründen. Das Papsttum, das geistige Universum des Abendlandes, hielt seine Machtposition für unanfechtbar und duldete keinen Widerspruch. Päpste wie Alexander VI. und Julius II. stehen geradezu exemplarisch für diesen Typus einer vollständig verweltlichten Herrschaft. Sie agierten jenseits aller Spiritualität oder Moral. Es waren käufliche Autokraten, die alles für käuflich hielten: Titel, Ämter, selbst Papstthron und „Seelenheil“.

Jürgen Wertheimer stellt fest: „Die Freisprechung von Schuld durch den Erwerb sogenannter Ablassbriefe wurde zum Zünder der Reformation.“ Der deutsche Augustinermönch Martin Luther (1483 – 1556) protestierte vehement gegen diese Praxis seiner Kirche. Er prangerte den Boom, den dieser Markt um 1500 erfuhr, in vielen seiner Schriften an. Auch die berühmten 95 Thesen, die er 1517 ans Hauptportal der Schlosskirche zu Wittenberg schlug, kreisen darum. Der Papst erscheint darin fast als Opfer skrupelloser Intriganten.

Der Vatikan betrachtete Martin Luther als Ketzer

Dass dieser scheinbar kircheninterne Disput das Potenzial hatte, einen europäischen Krieg auszulösen, war zu dieser Zeit wohl noch keinem klar. Und es hinderte den Papst auch nicht daran, gleichzeitig den Petersdom als größte christliche Kirche zu erbauen – unter anderem mit Geldern aus genau diesem umstrittenen Ablasshandel. Obwohl der legendäre Thesenanschlag von Anfang an die Gemüter erregte, fühlte sich der Vatikan noch sicher. Das vorlaute Mönchlein war nur einer der vielen Ketzer, die man routinemäßig verfolgen und neutralisieren würde.

Doch es sollte anders kommen. Jürgen Wertheimer weiß: „Luthers Unbehagen am Herrschaftsanspruch einer durch und durch korrupten, materialistischen und zynisch gewordenen Kirche traf den Nerv der Zeit.“ Längst ging es um mehr als Kircheninterna. Es ging um eine Lebensform, um das Selbstverständnis eines ökonomisch erfolgreichen, politisch sich emanzipierenden Bürgertums. Dieses wollte sich nicht mehr mit der Rolle der armen, unwissenden Sünder identifizieren. Quelle: „Europa“ von Jürgen Wertheimer

Von Hans Klumbies