Das Ende der Literatur scheint gekommen zu sein

In seinem neuen Buch „Vom Ende der Literatur“ kritisiert Alain Finkielkraut: „Man liest nicht mehr, man korrigiert und klagt an.“ Der Bannstrahl der neuen Moral und der Wille zur Umerziehung entspringen nicht dem Tugendideal der Askese, sondern einem egalitären Ideal. Man hütet sich übrigens, das Wort Tugend zu verwenden, weil man sich unbedingt vom Krieg gegen die Libido distanzieren will. Im Kapitel „Erbaulicher Kitsch statt sexistischer Klischees“ behauptet Alain Finkielkraut, dass es sich beim Neofeminismus um Vandalismus handelt: „Unter dem großtönenden Vorwand, das Privileg der Männlichkeit abzuschaffen, wird die Sprache entstellt – bis zur Unleserlichkeit und Unaussprechlichkeit.“ Man ersetzt den Reichtum einer Sprache, den zahllose Schriftsteller mitgeschaffen haben, im Namen der Gleichberechtigung durch ein grauenhaftes Kauderwelsch. Alain Finkielkraut gilt als einer der einflussreichsten französischen Intellektuellen.

Das Besondere darf nicht im Allgemeinen untergehen

Mit der neuen politischen Korrektheit schlug man ein neues Kapitel in der Geschichte des schlechten Gewissens auf. Es war die Scham der Bourgeoisie zu entstammen, die einst vielen Intellektuelle antrieb, in die Politik zu gehen. Sie büßten für ihren Wohlstand und ihre Privilegien, indem sie sich für die Proletarier engagierten. Nun ist jedoch sogar der Zeitpunkt gekommen, Scham dafür zu empfinden, ein Mann zu sein. Alain Finkielkraut schreibt: „Jetzt gilt es nicht mehr, gegen das eigene Klasseninteresse zu agieren, sondern um Vergebung zu bitten für die rohen Triebe.“

In normalen Zeiten stehen den Menschen zweit Mittel zur Verfügung, um zu verhindern, dass das Besondere im Allgemeinen untergeht: die Literatur und das Recht. Die Beachtung von Unterschieden und die Weigerung, pauschalisierend zu denken – charakteristisch sowohl für die juristische als auch für die literarische Betrachtung des menschlichen Lebens –, bewahrt vor ideologischem Denken. In revolutionären Zeiten aber gehen Menschlichkeit und Scharfblick solcher Art in der Flut der mitleidlosen Anteilnahme unter.

Die Kunst könnte die Schlacht gegen die Unwahrheit verlieren

Alain Finkielkraut schreibt: „Wir sind in das Zeitalter nach der Literatur eingetreten. Die Zeit, als die literarische Weltsicht ihren Platz hatte, scheint endgültig vorbei zu sein. Es ist allerdings nicht so, als sei die Inspiration plötzlich und für immer versiegt.“ Wahre Bücher schreibt und druckt man weiterhin, doch sie hinterlassen keinen Abdruck mehr. Sie können die Menschen nicht mehr formen. Die Erziehung der Seele gehört nicht mehr zu ihren Aufgaben.

Heutzutage leben die Menschen nicht nur unter einer schrankenlosen Herrschaft der egalitären Gegenwart. Diese belügt sich dauernd selbst und verliert sich dabei völlig aus den Augen. Die fantastischen Szenarien, die sie am laufenden Band produziert, dienen als Literaturersatz. Als Beispiele nennt Alain Finkielkraut einen simplifizierenden Neofeminismus, einen schlafwandelnden Antirassismus sowie das systematische Verdecken der Hässlichkeit wie der Schönheit der Welt. In ihrem Kampf gegen die Unwahrheit ist die Kunst im Begriff, die Schlacht zu verlieren.

Vom Ende der Literatur
Die neue moralische Unordnung
Alain Finkielkraut
Verlag: LMV
Gebundene Ausgabe: 220 Seiten, Auflage: 2023
ISBN: 978-3-7844-3656-2, 22,00 Euro

Von Hans Klumbies