Im Bereich der Werte gibt es moralische Tatsachen

Eine „Tatsache“ ist eine objektiv bestehende Wahrheit. Doch auch im Bereich der Werte gibt es Tatsachen – moralische Tatsachen. Viele Menschen glauben allerdings, dass es keine moralischen Tatsachen gibt. Dies wirft für Markus Gabriel eine grundlegende Frage auf, die in verschiedenen Varianten auftaucht: Gibt es überhaupt objektive Werte? Diese Frage hängt eng damit zusammen, was man tun soll. In den Tagen der Corona-Krise kommen verhaltensökonomische Modelle zum Einsatz. Markus Gabriel stellt fest: „Der Mensch wird in vielen Ländern – gerade jenen in denen eine Ausgangssperre verhängt wird – als Herdentier betrachtet, das nicht wirklich zu moralischen Entscheidungen fähig ist.“ Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

Menschen können moralische Werte erkennen

Eine mehr oder weniger milde Form des Wertenihilismus ist in der Philosophie als Antirealismus bekannt. Diejenige philosophische Disziplin, die sich mit der Frage beschäftigt, ob es objektiv bestehende moralische Tatsachen gibt, die man erkennen oder auch nicht erkennen kann, heißt Metaethik. Sie befasst sich mit der wichtigen Frage, welche Existenzform moralische Werte aufweisen beziehungsweise ob und unter welchen Bedingungen moralische Sätze, mit denen man das Verbotene, Erlaubte und Verwerfliche ausdrückt, wahr oder falsch sind.

Die prominentesten Theoriestränge der gegenwärtigen Metaethik kann man einteilen in den „moralischen Realismus“ und den „moralischen Antirealismus“. Der moralische Realismus nimmt an, dass es objektiv bestehende moralische Werte gibt, die ein Mensch erkennen kann. Ein moralischer Satz wie „Du sollst nicht töten“ ist demnach wahr, weil es moralische Tatsachen gibt, die dieses Postulat abbilden. Der moralische Antirealismus meint hingegen die Ethik sei die Erfindung des moralisch Richtigen und Falschen.

Die Stimme des Gewissens ist vielen Menschen wichtig

Markus Gabriel weiß: „Antirealisten, auch als Subjektivisten bekannt, glauben, es gebe in Wirklichkeit keine moralischen Werte, keine vorgeschriebenen oder verwerflichen Handlungen.“ Moralische Sätze täuschen im Alltagsleben so gesehen grammatisch vor, dass es moralische Maßstäbe gibt. Diesen vermeintlichen Schein wollten Denker von den antiken Sophisten über Friedrich Nietzsche und den nationalsozialistischen Staatsrechtler Carl Schmitt bis in die Gegenwart immer wieder entlarven.

Der Antirealismus ist ein gefährlicher Schritt in Richtung des Wertenihilismus, der alle moralischen Verpflichtungen hinter sich lässt. Man muss ihn zwar nicht nihilistisch interpretieren. Dennoch kann er kaum mehr erklären, warum viele Menschen den Eindruck haben, von einer höheren Moralität in Anspruch genommen zu sein. Sie erleben also ein Phänomen, das im Alltag als die Stimme des Gewissens bekannt ist. Dieser Stimme ist in den Augen der Antirealisten eine Art grammatische Täuschung. Quelle: „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“ von Markus Gabriel

Von Hans Klumbies