Moralische Urteile geben kein Wissen wieder

In den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts war das Wichtigste an der Moral die Frage nach ihrer kognitiven Dimension. Das bedeutet nicht, dass in der gesellschaftlichen Erfahrung ihr Wahrheitsanspruch im Vordergrund gestanden wäre. Alexander Somek weiß: „In gewisser Weise war das Gegenteil der Fall. Vor vierzig oder fünfzig Jahren verstanden sich viele als Relativisten oder gar Skeptiker.“ Die Moral der Gegenwart ist davon auffällig verschieden. In der Praxis des moralischen Urteils manifestiert sich ein Selbstverständnis über die Bedeutung des moralischen Urteils. Das entspricht in der Metaethik dem, was man gemeinhin als „Emotivismus“ bezeichnet. Nach emotivistischer Auffassung geben moralische Urteile kein Wissen wieder. Sie haben keinen kognitiven Gehalt. Alexander Somek ist seit 2015 Professor für Rechtsphilosophie und juristische Methodenlehre an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.

Moralische Urteile wollen zur Beistimmung motivieren

Sie können weder wahr noch falsch sein. Auch nicht im subjektiven Sinn, dass sie wahrhaftig wiedergäben, wie die urteilende Person etwas subjektiv empfindet. Moralische Urteile sind performative Kundgaben von Zustimmung oder Ablehnung zu bestimmten Handlungen oder Praktiken. Sie wollen zur Beistimmung motivieren. Obwohl sie ihrer Formulierung nach etwas konstatieren, sind sie als Exklamationen zu verstehen. Ihr Motto lautet: „Solidarität! Hurra!“ oder „Diebstahl! Pfui!“.

Als eine bedeutende Position in der Metaethik nimmt der Emotivismus dazu Stellung, was moralische Urteile überhaupt bedeuten und ob sie wahrhaftig sind. Alexander Somek erklärt: „Er steht im strikten Gegensatz zu einer kognitiven Ethik, die behauptet, moralische Urteile können wahr oder falsch sein.“ Die Moral der Gegenwart praktiziert das moralische Urteil so, als ob der Emotivismus das Wesen der Moral zutreffend erfasst hätte. Implizit basiert sie auf einem emotivistischen Moralverständnis.

Der emotivistischen Moral fehlen die Begründungen

Diese Beobachtung lässt sich zunächst für Inklusionsimperative bestätigen. Emotives moralisches Urteilen übernimmt keine Begründungslast. Es wirbt um Beistimmung. Als Basis kann dafür nur etwas dienen, das niemand in Frage stellt. Sexismus ist schlecht. Wer würde dies ernsthaft leugnen wollen? Was sich von selbst versteht, wird im nächsten Schritt ausgedehnt und ausgedeutet. Wenn Sexismus schlecht ist, dann ist auch Heterosexismus schlecht. Das eine gehört doch zum anderen. Das soziale Gesicht des Sex ist das Gender. Das soziale Geschlecht gehört zur Ordnung des Sichtbaren.

Männer mit buntbemalten Fingernägeln zu benachteiligen, ist Sexismus. Pfui! Alexander Somek stellt fest: „Solcherart erobern die Inklusionsimperative immer mehr Terrain.“ Verschiedentlich erhält man überraschende Ergebnisse und gerät ins Staunen. Die Moral sagt: Um Sexismus zu vermeiden, müsse der Ausdruck „Mitglieder“ um die „Mitkliter“ ergänzt werden, denn im Signifikanten „Mitglieder“ prange obszön der Penis. Ob solche Skandalisierungen Sinn machen, ist unerheblich. Die emotivistisch praktizierte Moral offenbart sich am Fehlen von Begründungen. Quelle: „Moral als Bosheit“ von Alexander Somek

Von Hans Klumbies