Alle Menschen teilen universelle Werte

Hanno Sauer stellt in seinem neuen Buch „Moral“ fest, dass universelle Werte scheinbar erodiert sind und eine allgemeingültige Moral der Vergangenheit angehört. Doch seiner Meinung nach trügt der Schein. Denn tatsächlich gibt es universelle Werte, die alle Menschen miteinander teilen. Der Autor erzählt die Geschichte der Moral von der Evolution menschlicher Fähigkeit zur Kooperation vor fünf Millionen Jahren bis zu den jüngsten Krisen moralischer Polarisierung. Und Hanno Sauer erklärt, welche Prozesse die moralische Grammatik der Gegenwart prägen. Wer verstehen will, wie die Moral die Identität der Menschen bestimmt, muss ihre Geschichte verstehen. Sie handelt von allem, was dabei wichtig war: von Werten, Prinzipien, den Quellen der Identität, den Fundamenten der Gemeinschaft und vom Mit- und Gegeneinander. Hanno Sauer ist Associate Professor of Philosophy und lehrt Ethik an der Universität Utrecht in den Niederlanden.

Moralischer Fortschritt ist immer möglich

Hanno Sauer schreibt: „Woran können wir uns orientieren? Wie wollen wir leben? Wie können wir miteinander auskommen? Weshalb ist es uns früher gelungen und wie wird es in Zukunft möglich sein? Dies sind moralische Fragen, und die Geschichte, die ich erzählen will, ist eine Geschichte der Moral.“ Moral – das klingt nach Hemmung und Zwang, nach Einschränkung und Aufopferung. Inquisition und schlechtes Gewissen, Keuschheit und Katechismus hören sich ähnlich an: freudlos, klaustrophobisch und mit erhobenem Zeigefinger.

Für Hanno Sauer ist dieser Eindruck auch nicht falsch. Er ist allerdings unvollständig und ergänzungsbedürftig. Moderne Gesellschaften stehen aktuell unter einem moralischen Druck, die Möglichkeit ihres eigenen Fortbestehens mit den unangenehmsten Wahrheiten ihrer Existenz zu vereinen. Insgesamt ist das Buch „Moral“ eine pessimistische Fortschrittsgeschichte. Sie ist bedrückend, denn innerhalb jeder Generation gibt es zu viel des Bösen. Dennoch ist moralischer Fortschritt, selbst in dunklen Zeiten, immer möglich und oft wirklich.

Die Moral etabliert Regeln für das Miteinander der Menschen

Die moralische Krise der Gegenwart ist eine Eskalation der scheinbaren Entzweiung. Das widersprüchlich Doppelversprechen von Freiheit und Gleichheit, das moderne Gesellschaften den Menschen gegeben haben, wurde nie eingelöst. Hanno Sauer stellt fest: „Die Frustration und Empörung, die daraus entstanden, setzten die Energien alter Instinkte frei, die uns die Welt ein weiteres Mal in Wir und Dir aufteilen ließ. Wenn wir diese Krise bewältigen wollen, müssen wir die Mechanismen verstehen, die zu dieser sozialen Spaltung führten.“

Bevor alte Probleme gelöst sind, muss sich die Moral bereits auf neue Herausforderungen einstellen, für die sie nicht gemacht ist. Vielleicht ist es sogar die letzte große Herausforderung, bevor die Menschheit jenseits dieses Planeten weitermacht – weil sie es so will oder weil sie es muss. Die Moral hatte immer die Funktion, Regeln für das Miteinander der Menschen zu etablieren, die es ihnen erlauben, akute Probleme sozialer Kooperation in kleinen Gruppen zu bewältigen. Aber die geopolitischen Herausforderungen, mit denen die Menschheit aktuell konfrontiert ist, droht ihr über den Kopf zu wachsen. Denn die gewaltige Aufgabe lautet: „Wie lässt sich soziale Kooperation auf der Ebene der gesamten Menschheit, inklusive weit in der Zukunft lebender Generationen, ermöglichen?“

Moral
Die Erfindung von Gut und Böse
Hanno Sauer
Verlag: Piper
Gebundene Ausgabe: 391 Seiten, Auflage: 2023
ISBN: 978-3-492-07140-6, 26,00 Euro

Von Hans Klumbies