Gutem Verhalten geht eine „schwierige Freiheit“ voraus

Der litauisch-französische Philosoph Emmanuel Lévinas hat einige wunderschöne Seiten über die „schutzlose“ menschliche Haut geschrieben. Charles Pépin erklärt: „Unsere Haut ist viel dünner als die der anderen Säugetiere. Es ist gar nicht so schwer – zumindest materiell gesprochen –, einen Menschen zu töten.“ Das erste moralische Gebot „Du sollst nicht töten“ hat erst dann einen Sinn, wenn der Andere als Gegenüber wirklich anwesend ist. Nur dann wendet er einem Anderen sein Gesicht zu und macht ihn für sein Überleben verantwortlich. Emmanuel Lévinas bezeichnet diese Verantwortung sogar als Geiselschaft. Man kann es sich jetzt nicht mehr aussuchen und hat die Pflicht, sich um den Anderen zu kümmern. Charles Pépin ist Schriftsteller und unterrichtet Philosophie. Seine Bücher wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.

Das Gesicht präsentiert den ganzen Körper des Anderen

Diese Verantwortung als Geiselschaft ist nicht negativ aufzufassen. Die Verantwortung, die einem Menschen zufällt, offenbart ihm seine wahre Natur als moralisches Wesen und genau genommen auch die „schwierige Freiheit“, die es bedeutet, sich gut zu verhalten. „Erst wenn ich den Anderen anspreche, erfahre ich mich selbst“, schreibt Emmanuel Lévinas. Damit will er sagen, dass die Begegnung mit dem Anderen eine Person endlich auf Augenhöhe mit seiner Menschlichkeit bringt.

Emmanuel Lévinas verwendet häufig das Wort „Gesicht“, wobei er damit eigenartigerweise den ganzen Körper des Anderen meint, der vor einem Menschen aufgetaucht ist. Das „Gesicht“ des Anderen ist der Andere als Ganzes, für den man die ganze Verantwortung trägt. Charles Pépin erläutert: „Wenn ich den Anderen sehe, seine Menschlichkeit, kann das Hemmungen auslösen, meine Tötungskraft bremsen. Die Traumata der Soldaten rühren daher, dass sie gerade noch ein Gesicht, einen entsetzten Blick erhascht und eine Stimme gehört haben.“

Höflichkeit steht am Beginn des Moralbewusstseins

Diese Bilder und Laute verfolgen sie, weil sie ihrem Opfer begegnet sind, und sei es noch so kurz. Die Gesichter erinnern sie daran, dass ihr Treiben auf dem Schlachtfeld in diametralen Gegensatz zum ersten aller Gebote steht: Du sollst nicht töten. Die Höflichkeit, die man für oberflächlich halten kann, steht für Emmanuel Lévinas am Beginn des Moralbewusstseins. Das lässt sich gut nachvollziehen, wenn man sich das Beispiel einer Begegnung mit einem Obdachlosen vor Augen führt.

Charles Pépin stellt ergänzt: „Indem wir ihm gegenüber höflich sind, nehmen wir uns bereits seiner an und fühlen uns ein Stück verantwortlich. Die Begegnung mit seinem Gesicht bedeutet, dass wir uns unserer Verantwortung als Mensch nicht mehr entziehen können.“ Das ist vermutlich auch der Grund, warum das berühmte Bild „Der Schrei“ von Edvard Munch die Betrachter so berührt. Das vor Grauen verzerrte Gesicht konfrontiert sie mit der Angst dieses Menschen. Quelle: „Kleine Philosophie der Begegnung“ von Charles Pépin

Von Hans Klumbies