Selbstfindung ist eine Illusion

Der Schlafende ist nicht nur ein Wesen, das seine Geschichtlichkeit verloren hat, das sich ins Unhistorische transzendiert, sondern der schlafende Mensch ist auch ein Wesen, das sein Ich verloren hat. Konrad Paul Liessmann stellt fest: „Im Schlaf können wir über uns keine Auskunft geben, im Schlaf können wir uns nicht zu uns selbst verhalten. Damit fehlt dem Schlafenden aber die Grundvoraussetzung, um überhaupt von einem Selbst sprechen zu können.“ Sören Kierkegaard hat das Selbst einmal folgendermaßen definiert: „Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält.“ Das Selbst ist eine ontologische Entität im Menschen, die gesucht werden könnte: Selbstfindung ist eine Illusion. Konrad Paul Liessmann ist Professor emeritus für Philosophie an der Universität Wien, Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist.

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Herfried Münkler beschreibt Deutschlands Rolle im 21. Jahrhundert

Ein wesentlicher Strang des Buches „Macht im Umbruch“ von Herfried Münkler ist die Geopolitik, die im Zuge der Umbrüche und Veränderungen der letzten zehn Jahre einen bemerkenswerten Wiederaufstieg erfahren hat, auch in Deutschland, wo sie aus der öffentlichen wie fachwissenschaftlichen Debatte nahezu verschwunden war. Einen Schwerpunkt bildet dabei Deutschlands Rolle in Europa und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Herfried Münkler schreibt: „Es wird die Rolle eines „primus inter pares“ sein, eines Ersten unter Gleichen, aber doch eben eines Ersten, dessen es beim Umbau und der Neugestaltung der EU bedarf.“ Aber Deutschland schafft das nicht allein, sondern ist dafür auf eine Reihe von Unterstützermächten angewiesen, die in einer reformierten und an Handlungsfähigkeit orientierten EU so etwas wie den innersten Kreis der Europäischen Union bilden würden. Herfried Münkler ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Viele seiner Bücher gelten als Standardwerke, etwa „Imperien“ oder „Die Deutschen und ihre Mythen“.

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Pyrrhon von Ellis begründet die Skepsis

Ludwig Marcuse schreibt: „Die Angst vor dem Wechsel, im Leben des Einzelnen und der Gesellschaft, trieb die Philosophen zur Erfindung des Ewigen.“ Pyrrhon von Ellis lebte etwas 300 vor Christus und war der legendäre Begründer der Skepsis. Axel Braig hat begonnen, seiner Umwelt mitzuteilen, dass er auf die Vorstellung der einen großen Wahrheit verzichten möchte. Erfahrungen und Wahrnehmungen des Lebens haben sich zu einem für neue Erfahrungen offenen, aber ansonsten durchaus stabilen Netz von Überzeugungen zusammengefügt. Axel Braig erklärt: „Dieses Netz bildet eine meist brauchbare Grundlage für viele Entscheidungen. Diese treffe ich täglich und meistens ganz ohne nachzudenken. So komme ich auch ohne die gefühlte Sicherheit einer angeblich absoluten Wahrheit durchs Leben.“ Axel Braig wandte sich nach Jahren als Orchestermusiker und Allgemeinarzt erst spät noch einem Philosophiestudium zu.

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Es herrscht ein offensichtliches Ungleichheitsparadox

Ungleichheit mag unbeliebt sein, doch konnte dies offensichtlich nicht verhindern, dass die Einkommen und Vermögen in der gesamten industrialisierten Welt immer weiter auseinanderklaffen. Ben Ansell stellt fest: „Wir leben in einem Zeitalter eines offensichtlichen Ungleichheitsparadoxon: Die globale Ungleichheit ist zurückgegangen, da Milliarden Menschen in China und Indien aus der Armut befreit wurden; in den wohlhabenden Ländern wächst die Ungleichheit seit den 1980er- Jahren dramatisch.“ Die Schließung von Fabriken und stagnierende Löhne in den reichen Ländern führten zu Reaktionen sowohl gegen wohlhabende urbane Regionen als auch gegen den Handel mit ärmeren Ländern. Die politischen Auswirkungen dieser Abwehrreaktion waren gravierend und stellten die bisherige Rechs-links-Politik in Amerika und in Europa auf den Kopf. Ben Ansell ist Professor für Politikwissenschaften am Nuffield College der Universität Oxford.

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Die Würde des Menschen ist unantastbar

Die Väter des Grundgesetzes von 1949 achteten darauf, dass die Rechte des Individuums in der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland gewahrt werden und vor Übergriffen des Staates geschützt sind. Silvio Vietta blickt zurück: „Erarbeitet wurde dieses Grundgesetz von Mitgliedern der beiden damals zugelassenen Parteien CDU und SPD unter dem Vorsitz des Kölner Altbürgermeisters Konrad Adenauer und dem Ausschussvorsitzenden Staats- und Völkerrechtler Carlo Schmid (SPD). Inhaltlich stellt das Grundgesetz (GG) nun die Grundrechte des Bürgers an Anfang, so in Artikel 1 den Schutz der Menschenwürde – „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Artikel 2, die freie Entfaltung der Persönlichkeit – „Jeder hat das Recht auf die Entfaltung der Persönlichkeit“ –, ist ein Grundrecht, das für die Entwicklung und Bildung der Bürger von zentraler Wichtigkeit ist. Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.

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Den Liberalismus prägt die voluntaristische Vorstellung von Freiheit

Abgesehen von der Prämie der amerikanischen Macht hatte das Versprechen der Vorherrschaft in den Nachkriegsjahren noch eine tiefere Quelle – in der Philosophie des Öffentlichen im zeitgenössischen Liberalismus. Michael J. Sandel erklärt: „Dieser Liberalismus machte den Vorrang des Rechts vor dem Guten geltend; der Staat sollte gegenüber konkurrierenden Vorstellungen des Lebens neutral sein.“ Damit würde er die Menschen als freie und unabhängige Persönlichkeiten respektieren, die in der Lage seien, ihre eigenen Ziele zu wählen. Die voluntaristische Vorstellung von Freiheit, die diesen Liberalismus beflügelt, bietet eine befreiende Vision, das Versprechen einer Handlungsmacht, die scheinbar auch unter den Bedingungen konzentrierter Macht zu verwirklichen war. Michael J. Sandel ist ein politischer Philosoph. Er studierte in Oxford und lehrt seit 1980 in Harvard. Er zählt zu den weltweit populärsten Moralphilosophen.

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Der Ökonomie ist in den Alltag eingeflossen

Die meisten Menschen haben eine schwierige und unklare Beziehung zu den Wirtschaftswissenschaften. In den Nachrichten hören sie oft von irgendeiner ökonomischen Voraussage, die sich inzwischen als völlig falsch herausgesellt hat. Oder sie erfahren von einer wirtschaftlichen Maßnahme, die nicht die Versprechungen des Ökonomen erfüllen kann, der sie empfohlen hat. Und doch ist in der jüngeren Geschichte zu beobachten, dass sie den Ideen von Ökonomen immer mehr Ehrfurcht entgegenbringen. Jonathan Aldred stellt fest: „Einstmals umstrittene ökonomische Denkweisen sind in unseren Alltag eingeflossen. Unsere Beziehung zu den Wirtschaftswissenschaften ist eine Hassliebe. Und sie ist zutiefst ungleich.“ Jonathan Aldred ist Direktor of Studies in Ökonomie am Emmanuel College. Außerdem lehrt er als Newton Trust Lecturer am Department of Land Economy der University of Cambridge.

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Die Digitaltechnologie befindet sich im Konflikt mit der Privatsphäre

Die beiden Besonderheiten der Digitaltechnologie – Bequemlichkeit und Überwachung – befinden sich im Konflikt mit der Privatsphäre. Gerd Gigerenzer erklärt: „Viele Menschen fühlen sich ausgeliefert und wissen keinen Ausweg. Anderen ist die unmittelbare Bequemlichkeit wichtiger als der langfristige Verlust der Privatsphäre.“ Trotzdem ist es bemerkenswert, dass die meisten nicht bereit sind, auch nur einen Euro zu bezahlen, um ihre Privatsphäre zurückzugewinnen. Vielleicht sind manche auch der Meinung, die Social-Media-Unternehmen würden sich nicht an eine solche Vereinbarung halten oder ihre Daten würden auch von anderen Organisationen gesammelt. Was immer die Gründe sein mögen, es könnte gut sein, dass das Privatsphären-Paradox nur ein kurzes Zwischenspiel der Geschichte bleiben wird. Gerd Gigerenzer ist ein weltweit renommierter Psychologe. Das Gottlieb Duttweiler Institut hat Gigerenzer als einen der hundert einflussreichsten Denker der Welt bezeichnet.

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Kevin Dutton beschreibt die natürliche Auslese

Kevin Dutton weiß: „Die natürliche Auslese ist nicht dumm.“ Sie wusste schon vor ein paar Hunderttausend Jahren ganz genau, dass die Gehirne der Menschen, wenn keine Vorkehrungen getroffen würden, keine Ruhe finden. Denn sie sammeln unablässig immer nuanciertere Daten zu jedwedem Problem. Dessen schwindende Überreste würden sich in zunehmend fraktale und bedeutungslose Gedankenbytes zergliedern. Stießen die Vorfahren der heutigen Menschen zufällig auf eine Schlange im Unterholz oder auf eine Spinne in der Ecke der Höhle … wie viele Beweise brauchte man dann, um sichergehen zu können, dass dieses Tier harmlos war oder auch nicht? Also musste die natürliche Auslese die Sache in die Hand nehmen. Sie musste sich der Herausforderung stellen. Was sie auch tat. Kevin Dutton ist Forschungspsychologe an der University of Oxford und Mitglied der British Psychological Society.

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Die neue Unterklasse hat permanent Schwierigkeiten

Während das nach Selbstentfaltung strebende und an Statusinvestition orientierte Leben der neuen Mittelklasse ambitioniert ist, sind die Ansprüche der neuen Unterklasse gezwungenermaßen stark reduziert. Andreas Reckwitz erklärt: „Ihre Lebensform ist eine, die von der „Alltagslogik des muddling through“ strukturiert ist: Man muss irgendwie durchkommen, es irgendwie schaffen, sich „durchwursteln“, ja durchbeißen, von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr.“ Für den Alltag der Individuen aus der neuen Unterklasse sind damit zwei Elemente prägend: der Umgang mit permanenten Schwierigkeiten und der kurze Zeithorizont. Den Alltag beherrscht das Motiv der Schwierigkeiten, die man vermeiden will, die trotzdem auftreten und die man zu überwinden versucht. Von außen betrachtet, sind es scheinbar kleine Schwierigkeiten, die aber rasch existenzbedrohende Bedeutung erhalten können. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

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Big Data begreift seine Ergebnisse nicht

Big Data stellt ein rudimentäres Wissen zur Verfügung. Es bleibt auf Korrelationen und Mustererkennungen beschränkt, in denen jedoch nichts begriffen wird. Der Begriff bildet eine Ganzheit, die ihre Momente in sich einschließt und einbegreift. Byung-Chul Han erklärt: „Die Ganzheit ist eine Schlussform. Der Begriff ist ein Schluss. Alles Vernünftige ist ein Schluss. Big Data ist additiv. Das Additive bildet keine Ganzheit, keinen Schluss. Ihm fehlt der Begriff, nämlich der Griff, der Teile zu einer Ganzheit zusammenschließt.“ Künstliche Intelligenz erreicht nie die Begriffsebene des Wissens. Sie begreift nicht die Ergebnisse, die sich berechnet. Das Rechnen unterscheidet sich vom Denken dadurch, dass es sich keine Begriffe bildet und nicht von einem Schluss zum nächsten voranschreitet. Die Bücher des Philosophen Byung-Chul Han wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.

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Der Alpdruck der Vergangenheit wiegt oft schwer

Eine zentrale Frage bei Karl Marx lautet: Wie wird man mit dem Alpdruck der Vergangenheit fertig? Denn kein Mensch handelt losgebunden von der Geschichte, sondern sie lastet auf ihm, er ist hineingeworfen in eine Geschichte, die er nicht gemacht hat, mit der er aber in irgendeiner Weise zurande kommen muss. Konrad Paul Liessmann erläutert: „Revolutionen hätten nach Marx auch die Aufgabe gehabt, diese Last der Vergangenheit, wenn nicht schon abzuschütteln, so doch zu minimieren und den Blick frei zu machen für das Morgen.“ Genau dazu aber wühlen die Menschen im Fundus der Vergangenheit und suchen darin nach passenden Kostümen. Die Französische Revolution verkleidet sich beispielsweise als Römische Republik. Konrad Paul Liessmann ist Professor emeritus für Philosophie an der Universität Wien, Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist.

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Die Liebhaber moderner Kunst sind oft konservativ

Woher kommt das Neue? Ein innovativer Stil setzt sich meistens dann durch, wenn ihn kreative Künstler wollen und die neuen Ausdrucksformen den Geschmack der Auftraggeber treffen. Dabei gibt es ein Muster: moderne Bilder des Menschen werden von modern denkenden und noch moderner wirtschaftenden Menschen bestellt. Volker Reinhardt schränkt ein: „Doch diese Regel gilt nicht immer, zumindest nicht, was die Auftraggeber betrifft.“ Doch zwischen den Auftraggebern, die den alten und den neuen Stil bevorzugten, lassen sich weder soziale noch wirtschaftliche oder politische Unterschiede feststellen. Nicht selten waren die Liebhaber der modernen Kunst im täglichen Leben konservativer als ihre Konkurrenten, die bei der Ausschmückung ihrer Paläste und Kapellen das Bewährte bevorzugten. Volker Reinhardt ist Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg. Er gehört international zu den führenden Italien-Historikern.

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Das Geschäft mit der Psyche boomt

Diana Pflichthofer warnt in ihrem Buch „Die Psychoindustrie“, dass in diesem Bereich mehr Show als Substanz vorherrscht. Eine Vielzahl von selbst ernannten Therapeuten, Coaches und Heilpraktiker versprechen Menschen in psychischer Not Erleichterung und Heilung. Das Geschäft mit der Psyche boomt. Doch in einer Zeit der Krisen, die psychische Erkrankungen deutlich ansteigen lassen, sind diese ausgeklügelten Geschäftsmodelle ausgeklügelter denn je. Immer wieder ist Diana Pflichthofer erstaunt, wer sich im Fernsehen oder in Zeitungen sich auf welche Weise sich zu Themen rund um psychische Erkrankungen und Nichterkrankungen äußert. Was sich gerade in der sogenannten „Psychoindustrie“ abspielt macht Diana Pflichthofer fassungslos: „Seit geraumer Zeit beobachte ich, wie viele vermeintliche Psycho-Expertinnen auf den Psycho-Markt drängen und „therapieren“ möchten, häufig ohne Ausbildung, ohne fachkundige Supervision, ohne Erfahrung mit klinischen Krankheitsbildern und ohne professionelle Selbsterfahrung.“ Dr. Diana Pflichthofer ist Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytikerin und Gruppenanalytikerin.

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Die Romantik war ein Schritt in Richtung Moderne

Im Grunde weckt der Begriff „Romantik“ heute völlig falsche Assoziationen. Jürgen Wertheimer erklärt: „Nein, es handelt sich um keine naive Gefühlsüberflutung, keine empfindsame Weltflucht. Es geht um nichts Geringeres als einen Umsturz der Wahrnehmung aus dem Geist der Poesie.“ Eine Revolution der Innenwelt, eine generelle Neuausrichtung der Wahrnehmungssensorien. Und das mit einer – trotz aller Verschiedenartigkeit der nationalen Situation – erstaunlichen Geschlossenheit. Denn im Grunde verbirgt sich hinter dem romantischen Aufbruch bei aller scheinbar Rückwärtsgewandtheit und Bizarrerie ein wesentlicher Schritt in Richtung Moderne. Alle romantischen Theoretiker sahen sich als Vertreter einer jungen, progressiven Bewegung, die einem neuen Denk- und Empfindungsstil den Weg bereiten sollte. Jürgen Wertheimer nennt Protagonisten August Wilhelm Schlegel, Novalis, Samuel Taylor Coleridge, John Keats, Victor Hugo und Alfred de Musset. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

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Im14. Jahrhundert war das Leben unsicher

Sarah Bakewell vermutet: „Hätte man die Wahl, würde man wahrscheinlich nicht im frühen 14. Jahrhundert auf der italienischen Halbinsel geboren sein wollen.“ Denn das Leben war damals unsicher, verfeindete Städte bekämpften einander regelmäßig. Der lang andauernde Konflikt zwischen der Partei der Guelfen und der Ghibellinen wurde zwar beigelegt, aber die siegreichen Guelfen spalteten sich in eine „weiße“ und eine „schwarze“ Fraktion, und so gingen die Auseinandersetzungen weiter. Rom, der historische Mittelpunkt der Christenheit, wurde von dem bedrängten Papst Clemens V. verlassen. Er floh vor seinen Feinden und verlegte den Hof nach Avignon, einem schlecht gerüsteten Städtchen jenseits der Alpen mit einem entsetzlichen Klima. Sarah Bakewell lebt als Schriftstellerin in London, wo sie Creative Writing an der City University lehrt und für den National Trust seltene Bücher katalogisiert.

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Jeder Mensch ist einzigartig

Die drei Begriffe Individuum, Personalität und Subjektivität gehören eng zusammen und bezeichnen – wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven – dasselbe. Nämlich den Menschen in seiner Einzigartigkeit, Würde seiner Erscheinung, Selbststeuerung – als Hochwerte der abendländischen Kulturgeschichte. Silvio Vietta ergänzt: „Keine andere Kultur hat dem Einzelmenschen eine solche Hochschätzung widerfahren lassen wie die abendländische. Die asiatischen und die meisten indigenen Kulturen ordnen vielmehr den Einzelmenschen dem Kollektiv unter.“ Ihm kommt dort nicht ein solcher Hochwert zu, wie in der abendländischen Kultur, und dies aus unterschiedlichen Begriffstraditionen heraus. In den drei Begriffen mischen sich bereits Elemente der rationalen Kultur mit denen der christlichen. Insbesondere der Begriff der „Persönlichkeit“ kommt aus der römischen Theatertradition, wird dann christlich-theologisch überformt und schließlich auch durch die rationale Philosophie starkgemacht. Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.

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Die Ungleichheit zwischen Gesellschaften ist immens

Erstaunlicherweise fand der sprunghafte Anstieg des Wohlstands, der in den letzten Jahrhunderten zu verzeichnen war, nur in einigen Teilen der Welt statt. Zudem löste er eine zweite große Transformation aus, die für die menschliche Spezies einzigartig ist. Nämlich die Entstehung einer immensen Ungleichheit zwischen den Gesellschaften. Oded Galor erklärt: „Man könnte mutmaßen, dieses Phänomen habe vor allem damit zu tun, dass der Ausbruch aus der Epoche der Stagnation weltweit zu unterschiedlichen Zeiten stattgefunden hat.“ Die westeuropäischen Länder und manche ihrer Ableger in Nordamerika und Ozeanien erlebten die sprunghafte Verbesserung ihrer Lebensbedingungen bereits im 19. Jahrhundert. Dagegen verzögerte sich ein entsprechender Fortschritt in den meisten Regionen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Oded Galor ist israelischer Wirtschaftswissenschaftler und mehrfach ausgezeichneter Professor an der Brown University, USA. Er forscht vor allem zum Thema Wirtschaftswachstum.

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Gefühle dienen als Alarmwächter

Antonio Damasio weiß: „Gefühle entstehen im Inneren des Organismus, in den Tiefen der Eingeweide und Flüssigkeiten, in denen die chemischen Vorgänge, die für das Leben in all seinen Aspekten verantwortlich sind, die uneingeschränkte Herrschaft ausüben.“ Damit meint Antonio Damasio die Tätigkeit des Hormon-, Immun- und Kreislaufsystems, die für Stoffwechsel und Abwehr zuständig sind. Wie steht es mit der „Funktion“ der Gefühle? Die Kultur- und sogar die Wissenschaftsgeschichte haben dazu geführt, dass die Rolle der Gefühle nicht nur rätselhaft, sondern sogar unergründlich erschien. In Wirklichkeit liegt die Antwort aber auf der Hand: Gefühle helfen bei der Bewältigung des Lebens. Genauer gesagt dienen sie als Alarmwächter. Antonio Damasio ist Dornsife Professor für Neurologie, Psychologie und Philosophie und Direktor des Brain and Creativity Institute an der University of Southern California.

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Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt

Seiner Freiheit kann der Mensch nicht entrinnen. „Wir sind zu ihr verurteilt“, sagt Jean-Paul Sartre. Wenn man sie verleugnet und behauptet, dass man etwas nun einmal tun müsse oder nicht anders konnte, als dieses oder jenes zu tun, dann verleugnet man sich selbst. Ger Groot ergänzt: „Wir machen unser Handeln von etwas anderem abhängig, das uns dazu zwingt und machen uns selbst zu einem Ding.“ Nämlich zu einer Billardkugel, die willenlos fortrollt, wenn sie von einer anderen Billardkugel angestoßen wird. Diese Verleugnung der Freiheit ist unter der Würde des Menschen. Sie ist, sagt Jean-Paul Sartre: „Unaufrichtigkeit.“ Ger Groot lehrt Kulturphilosophie und philosophische Anthropologie an der Erasmus-Universität Rotterdam. Außerdem ist er Professor für Philosophie und Literatur an der Radboud Universität Nijmegen.

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Epiktet hat sogar die moderne Psychotherapie beeinflusst

Epiktet lebte sehr bescheiden und verschrieb sich gänzlich seiner Philosophie. Er setzte den Weg seines Vorgängers Seneca als wichtigster Vertreter der jüngeren Stoa fort. Gerhard Gleißner weiß: „Wie Seneca übernahm er die von Sokrates vorgezeichnete Technik des Hinterfragens der Ereignisse und gab seinen Schülern dafür konkrete und einprägsame Beispiele an die Hand.“ Teilweise ergänzte er dabei Seneca, brachte aber andererseits sehr viele neue Aspekte mit ein. So formulierte er das wahrscheinlich bedeutendste stoische Prinzip, das die moderne Psychotherapie am stärksten beeinflusst hat und damit auch die größte Auswirkung auf unsere seelische und körperliche Gesundheit hat. Gerhard Gleißner bezeichnet diese Methode mit seinen eigenen Worten als „Vorstellungs- und Machtprüfung“. Dr. med. Gerhard Gleißner ist seit 2014 als Amtsarzt und Gutachter im öffentlichen Gesundheitsdienst tätig.

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Die Ausbeutung im Kapitalismus ist gnadenlos

Die 32. Sonderausgabe des Philosophie Magazins ist Karl Marx gewidmet. Das Heft ist durch vier Fragen gegliedert: Was bewegt die Geschichte? Was ist falsch am Kapitalismus? Was heißt hier Klassenkampf? Was kommt nach dem Kapitalismus? Im Gespräch sagt der Autor Uwe Wittstock über Karl Marx: „In seinem ökonomischen Denken und in seiner Geschichtstheorie hat Marx diesen nun nicht mehr jenseitigen, sondern diesseitigen Sinn gefunden. Innerhalb dieser Theorie stand für ihn fest, dass ein menschenwürdiges Leben erst jenseits des Kapitalismus möglich sein würde. Der Kapitalismus zielt für Marx auf die gnadenlose Ausbeutung von allem und jedem.“ Als Philosoph, Ökonom, Journalist und Aktivist suchte Karl Marx die Gesellschaft zu verstehen und zu verändern. Immer wieder gerät er dabei in Konflikte. Sein Lebenslauf ist geprägt von den politischen Umbrüchen seiner Zeit, sein Denken inspiriert von ihren Großereignissen.

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Der innere Zusammenhalt stärkt eine Gesellschaft

Empathie für die Natur der Erde kann sich nur in solchen Gesellschaften entwickeln, die in ihrem Inneren einen ausreichenden Zusammenhalt aufweise. Zudem müssen sie etwas besitzen, was Joachim Bauer gesellschaftliche Empathie nennen möchte. Der Stress, dem die Gesellschaften dieser Erde durch die Corona-Pandemie des Jahres 2020 ausgesetzt waren, war eine traumatische Erfahrung. Joachim Bauer betont: „Die Erkenntnis, dass wir verletzliche Wesen sind, sollte uns Demut lehren und könnte uns von so manchem Größenwahn heilen.“ Würde man die Pandemie als eine Art Stress-Test betrachten, dann wurde dieser Test von den betroffenen Ländern sehr unterschiedliche bestanden. Dass sich die armen Länder dieser Erde der Pandemie besonders schutzlos ausgesetzt sahen, ist schlimm, aber nicht überraschend. Prof. Dr. Med. Joachim Bauer ist Neurowissenschaftler, Psychotherapeut und Arzt.

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Social-Media-Plattformen sind voll von Inhalten zu psychiatrischen Diagnosen

Laura Wiesböck beschreibt in ihrem neuen Buch „Digitale Diagnosen“, dass Social-Media-Plattformen voll sind von Inhalten zu psychiatrischen Diagnosen – und das nicht erst seit der COVID-19-Pandemie. Darin zeigt sich ein historisches Kontinuum: Was von wem als pathologischer Zustand verstanden wird, unterliegt laufenden Aushandlungsprozessen. Definitionen von „krank“ und „gesund“ sind keine objektiven Parameter. Sie sind sozial konstruiert, gesellschaftlich vermittelt, unterliegen spezifischen „Moden“ und sind abhängig von unterschiedlichen Interessen und vorherrschenden Werten. Sieht man die bisherigen Analysen über die gesellschaftliche Popularisierung von psychiatrischen Diagnosen an, wird vielfach der Standpunkt vertreten, dass ökonomische Interessen der Gesundheitsindustrie dahinterstünden. Andere Stimmen betonen, unsere gegenwärtige Kultur sei auf Schmerzverbeidung und damit Daueranästhesierung ausgelegt. Laura Wiesböck ist promovierte Soziologin und leitet die Gruppe „Digitalisierung und soziale Transformation“ am Institut für Höhere Studien Wien.

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Die Macht der Männer über die Frauen blieb unangetastet

Die Pariser Journalistin Claire Démar schrieb im Jahr 1833: „Die Macht des Vaters ist in ihrem Ausmaß und ihrer Tiefe einzigartig, weil sie in die Prozesse verwoben ist, durch die Menschen in der Kindheit und Jugend sozialisiert und diszipliniert werden.“ Christopher Clark ergänzt: „Es sei die Macht, durch die Väter ihre Söhne deformierten, indem sie deren geschundene Gliedmaßen schlügen, um sie zur Unterordnung zu zwingen.“ Es sei die Macht, die Männer und Frauen ausübten, sobald sie die Kontrolle über deren Besitz übernahmen, sexuelle Befriedigung forderten oder sie ungestraft misshandelten und entehrten. Es sei schwer, sich eine Welt ohne die Herrschaft dieser Macht vorzustellen, weil ihre Auswirkungen so allgegenwärtig seine. Christopher Clark lehrt als Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine’s College in Cambridge. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte Preußens.

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