Drei Segmente prägen die traditionelle Kultur

Es hat immer wieder Versuche gegeben, den Kern der traditionellen Kultursphäre in jeweils einen der drei Segmente der Kultur auszumachen. In der Religion etwa bei Max Weber, in der höfischen Gesellschaft bei Norbert Elias oder in der Volkskultur bei Michail Bachtin. Tatsächlich scheint aber gerade die Koexistenz aller drei Segmente für die traditionelle Kultursphäre charakteristisch zu sein. Andreas Reckwitz erläutert: „Sie ist durch eine Kombination aus Singularisierung und Wiederholung gekennzeichnet.“ In dieser Gesellschaftsform wird deutlich, dass Singularität und Innovation beziehungsweise Kreativität nicht zusammenfallen müssen. Die traditionelle Kultursphäre ist vielmehr an solchen kulturellen Elementen orientiert, die nicht einem Regime des Neuen unterworfen, sondern als wertvoll anerkannter Gegenstand der Wiederholung sind. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

Singulare Dinge entfalten eine „Aura“

Dies gilt etwa für die kanonischen Texte und Riten der Religionen, für die klassizistische Kunst und Architektur. Das trifft ebenso auf den kodifizierten höfisch-zivilen Umgang miteinander sowie für die Feste der Volkskultur zu. Ähnlich wie in den archaischen scheinen auch in den traditionellen Gesellschaften Prozesse der Singularität auf der Ebene von Dingen präsenter zu sein als auf jener von Subjekten. Singulare Subjekte können nur ausnahmsweise Anerkennung beanspruchen. Neben den religiösen Propheten gilt das am ehesten für Individuen mit Herrscherfunktionen.

Die Singularisierung von Dingen findet vor allem in den beiden Feldern der Kirche und der höfischen Gesellschaft statt. Der Architektur kommt nun in Form von Repräsentationsbauten ein besonderer Stellenwert für die Produktion von Singularität zu. Die singulären Dinge erhalten damit einen festen Ort. Dort entfalten sie eine „Aura“ im Sinne Walter Benjamins. Daneben führen die medientechnologischen Entwicklungen wie Schrift und Bildtechniken dazu, dass singuläre Objekte zunehmend auf der Ebene von Texten und Bildern verfertigt werden.

Der Wert der singulären Entitäten ist sozial kodifiziert

Generell gilt innerhalb der traditionalen Kultursphäre in allen ihren Segmenten: Der Wert der singulären Entitäten ist im Wesentlichen sozial kodifiziert und wenig umstritten. Dazu zählt Andreas Reckwitz religiöse Texte, Adelspaläste, religiöse oder weltliche Kunst und Feste. Der Bruch zwischen der traditionalen Gesellschaft und der Moderne, die Ende des 18. Jahrhunderts entsteht und bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts reicht, ist für Andreas Reckwitz prägnant. Es werden dabei technische, kognitive und normative Rationalisierungsprozesse angeschoben.

Das großflächige „doing generality“ entsteht bereits in der frühen Moderne über den Weg der industriellen Revolution. Des weiteren entwickelt es sich in der Kapitalisierung, der Verwissenschaftlichung, im Nationalstaats oder in der Globalisierung. Andreas Reckwitz fügt hinzu: „Der Strukturwandel der Kulturalisierung ist jedoch ebenso bedeutend. Er bringt den Lebensstil der Bürgerlichkeit und das bürgerliche Kunstfeld hervor sowei die radikalästhetische Bewegung der Romantik.“ Die Moderne zeichnet sich damit schon in ihrer Frühphase nicht nur durch eine radikale soziale Logik des Allgemeinen, sondern auch durch eine historisch ebenso außergewöhnliche soziale Logik des Besonderen aus – freilich als untergeordnete Gegentendenz. Quelle: „Die Gesellschaft der Singularitäten“ von Andreas Reckwitz

Von Hans Klumbies