Um Werte finden Kulturkämpfe statt

Andreas Reckwitz ist der festen Überzeugung, dass nicht nur der Begriff der Kultur renoviert gehört. Sondern auch der Begriff des Wertes ist zu entstauben. Nur dann ist er für die zeitgenössische Soziologie und Kulturtheorie interessant: „Unter Werten versteht man nicht neukantianisch ein Wertesystem, das der Praxis vorausgeht und sie motivational anleitet. Es geht nicht darum, dass einzelne Menschen oder ein Geschlecht bestimmte Werte haben.“ Werte muss man als Teil von gesellschaftlichen Zirkulationsdynamiken interpretieren. Diese sind ergebnisoffen und häufig konflikthaft – hier finden Kulturkämpfe statt. In der Sphäre der Kultur zirkulieren nicht nur Kunstwerke, attraktive Städte und bewundernswerte Individuen. Sie bringt auch Müll hervor. Die meisten Einheiten des Sozialen, denen die Singularisierung nicht gelingt – den Dingen, die nicht einzigartig erscheinen, oder den Menschen, denen Originalität fehlt, zum Beispiel –, bleiben in der Kultursphäre unsichtbar. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

Negative Singularitäten sind zum Beispiel Amokläufer

Jedoch kann in der Sphäre der Kultur unter Umständen über die Indifferenz hinaus eine starke Entwertung stattfinden. Dann gilt etwas als wertlos, ja als eine Art „Unwert“, das heißt als problematisch, bedrohlich oder minderwertig. Entscheidend ist, dass hier das Andere, von dem man sich abgrenzt, tatsächlich als Singularität, das heißt als Eigenkomplexität erscheint. Zudem muss es mit dezidierter negativer Bindung ausgestattet sein. Negativen Singularitäten bringt man, wenn sie auftauchen, ein erhebliches kulturelles, vor allem narratives und ästhetisches Interesse entgegengebracht.

Andreas Reckwitz erläutert: „Subjektive als negative Singularitäten sind zum Beispiel jene Serienmörder, Amokläufer und Terroristen, die das kulturelle Imaginäre der Moderne stark beschäftigt haben. Etwas weniger drastisch ziehen singuläre Troublemaker, etwa aus dem politischen Feld, Aufmerksamkeit und negative Anerkennung auf sich.“ Andere Subjekte können zu stigmatisierten Singularitäten werden, die mehr sind als bloße Typen des Anormalen. Es ist auch möglich, dass Orte, Ereignisse und Dinge negativ zu singularisieren. Zum Beispiel bestimmte No-go-Areas in den Metropolen oder ländliche Problemregionen.

Eine Kultur hat immer einen bestimmten Affektcharakter

Schließlich können sich Kollektive wechselseitig als negative Singularitäten wahrnehmen – beispielsweise fundamentalistische Gemeinschaften versus liberale Großstadtkultur. Die Form der Entwertung erreicht dabei häufig eine komplexe Dynamik. Das Andere, die negative Singularität, wird hier – mit der französischen Philosophin Julia Kristeva gesprochen – zu einem „Abjekt“, einer abjektiven Singularität als Gegenstand der Verwerfung. Die negativen Singularitäten sind eng mit intensiven negativen Affekten verbunden, häufiger aber noch mit ambivalenten, etwa mit fasziniertem Horror.

Damit ist Andreas Reckwitz bei einem weiteren Element angelangt, das neben dem Wertbegriff aus der Erbmasse des tradierten Kulturbegriffs zu bergen ist, um eine zeitgemäße Konzeption von Kultur und Kulturalisierung zu entwickeln: dem Affektcharakter der Kultur. In der Sphäre der Kultur im starken Sinne sind Singularitäten also mit Wert ausgestattet und haben Affektqualitäten. Man ist von ihnen ergriffen oder berührt, fasziniert oder auf anziehende Weise abgestoßen. Man empfindet Horror oder Geborgenheit. Quelle: „Die Gesellschaft der Singularitäten“ von Andreas Reckwitz

Von Hans Klumbies

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