Für Eva Illouz ist Gelegenheitssex eine abstrakte soziale Form, die nicht an menschliche Besonderheit ausgerichtet ist. Mehr noch, er entkleidet andere ihrer Einzigartigkeit. Dadurch schaltet er das aus, was der französische Soziologe Luc Boltanski als Prozess der Singularisierung bezeichnet hat. Dieser stellt für ihn einen wesentlichen Aspekt von Sozialität dar. Die sexuelle Lust, die sexuelle Wahlfreiheit, das Sammeln von sexueller Erfahrung durch zahlreiche Partner haben die heterosexuelle Begegnung grundlegend verändert. Und damit zugleich auch die Wege, auf denen man stabile emotionale und kulturelle Rahmen herausbildet und aufrechterhält. Der traditionelle heteronormative Geschlechtsverkehr verfolgte dagegen einen Zweck. Eva Illouz ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität von Jerusalem. Außerdem ist sie Studiendirektorin am Centre européen de sociologie et de science politique de la Sorbonne.
Sex soll Lust bereiten
Dieser Zweck bestand in einer Ehe, in Liebe, in einem gemeinsamen Leben oder in einem Kind. Der Gelegenheitssex zielt stattdessen auf die Anhäufung lustvoller Erlebnisse, die sich wiederum in ein Statussignal verwandeln. Sie sind ein Zeichen dafür, dass man einen Körper hat, der von anderen als attraktiv bewertet wird. Für Jungen und Mädchen bedeutet der Verlust der Jungfräulichkeit, dass sie sich in die soziale Klasse der sexuell begehrenswerten Menschen einreihen können.
So gesehen, ist Gelegenheitssex Teil der Herausbildung neuer Formen von Sexualkapital. Bei diesem verwandeln sich Sex, ein aktives Sexualleben und sexuelle Kompetenz zu neuen Statussymbolen und Wertkriterien. Jemanden abschleppen, One-Night-Stands, Sexpartys, Spontanficks, all dies sind erwartungslose Beziehungen. Dabei geht jeder Akteur mit gutem Recht seiner eigensüchtigen Lust nach, ohne emotionale Gegenseitigkeit, Relationalität oder einen Zukunftsentwurf zu erwarten. Jede sexuelle Begegnung soll Lust bereiten, und die Anhäufung solcher Begegnungen verleiht ihren Teilnehmern Status.
Gelegenheitssex verwandelt Menschen in Waren
Eva Illouz überrascht es nicht, dass für manche sexuell Libertären das Paradigma für befreiten und lustvollen Sex in der Prostitution besteht. Als sozialer Akt ist eine flüchtige sexuelle Begegnung erfolgreich, wenn sie keine Erwartungen schafft und keiner der Beteiligten mit ihr irgendwelche Zukunftsentwürfe verbindet. Beide empfinden dabei ungehindert und in gleicher Losgelöstheit sexuelle Lust. Ein so definierter Gelegenheitssex gleicht einer Dienstleistungstransaktion. Diese beruht darauf, auf vorübergehende und anonyme Weise eine gute Leistung zu erbringen.
In diesem Sinn ist Gelegenheitssex eine abstrakte Form, ganz wie Geld für Karl Marx oder Georg Simmel. Geld ist abstrakt, weil es Waren austauschbar macht, indem es sie unter ihren Tausch-, also Geldwert subsumiert. Beim Gelegenheitssex werden Menschen Waren gleich subsumiert unter die Währung der orgastischen Lust. Oder anders gesagt: Gelegenheitssex verortet Menschen unter ihren orgastischen Wert und macht sie austauschbar. Er abstrahiert sie zu bloßen Lustfunktionen. Quelle: „Warum Liebe endet“ von Eva Illouz
Von Hans Klumbies